Die EURO 2012 Vorschau: Gruppe A – Osteuropa unter sich

Vielen Fußballkennern geht es ähnlich: Beim Blick auf Gruppe A der EURO 2012 bekommt man unweigerlich den Eindruck, es handele sich um eine Vorqualifikation zum erst noch kommenden Hauptturnier oder einen netten Aufgalopp für die darauf folgenden Partien der wirklichen Topteams. Durch das automatische Setzen des Gastgebers Polen und einige glückliche Losumstände treffen in Warschau und Breslau ausschließlich Ländervertreter aus Osteuropa aufeinander – unter ihnen kein wirklicher Titelfavorit. Doch man sollte nicht zu despektierlich mit den vier Mannschaften der Auftaktgruppe umgehen. Es stecken einige viel versprechende Spieler und eine Menge Spannungspotential in den sechs zu absolvierenden Partien. Allein schon die direkten Aufeinandertreffen der früheren „Bruderstaaten“ Polen, Russland und Tschechien sorgt für genug Zündstoff angesichts nicht zu unterschätzender Rivalität unter den Völkern und Fans. Sportlich sollte also trotz zuweilen fehlender Qualität einiges geboten sein. Bleibt nur noch zu hoffen, dass es auch auf den Rängen und in den Innenstädten friedlich bleibt.

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Der Gastgeber der EURO 2012: Polen

Auf dem Papier ist die polnische Elf der größte Außenseiter des Turniers. Nur auf Rang 65 führt der Weltverband FIFA die Mannschaft des Gastgebers. Zurückzuführen ist dies einerseits auf die Tatsache, dass Polen in den vergangenen zwei Jahren kein Pflichtspiel bestritten hat, da es ohnehin für das Heimturnier qualifiziert war. Zudem hat Deutschlands östlicher Nachbar aber auch davor nur sehr mäßige Leistungen vollbracht. Die WM 2010 verpassten sie klar und bei den Turnieren 2006 in Deutschland und 2008 in Österreich schieden sie trotz machbarer Gruppenkonstellationen zweimal sang- und klanglos in der Vorrunde aus. Nun hat Fortuna die Polen bei der Auslosung erneut geküsst. Wird es deshalb besser laufen?

Mehrere Dinge sprechen dafür, dass für das Team von Franciszek Smuda diesmal nicht so zügig Schluss sein muss. Zum einen die Rolle als Gastgeber. Meistens hat der Heimbonus Mannschaften bei vergangenen großen Meisterschaften nämlich beflügelt, statt sie zusätzlich unter Druck zu setzen, beispielsweise auch Außenseiterteams wie die USA 1994 oder Südkorea 2002. Österreich, die Schweiz und Südafrika sind allerdings Negativbeispiele der jüngsten Vergangenheit. Doch die Polen haben nicht nur den den Vorteil der Heimat und der günstigen Auslosung, sie besitzen aktuell auch eine äußerst hungrige Mannschaft. Vornan stehen dabei die Bundesligaspieler Eugen Polanski (Mainz), Sebastian Boenisch (Bremen), Artur Sobiech (Hannover) und vor allem die drei Dortmunder Robert Lewandowski, Jakub Blaszczykowski und Lukasz Piszcek. Sie bilden nicht nur das Grundgerüst Polskas, sondern wissen auch, wie man erfolgreich ist. Über drei deutsche Meister in einem Team verfügt wahrlich nicht jeder Coach dieser EM.  Dazu kommt mit Wojciech Szczesny ein England-erfahrener Keeper. Die letzten Testspielergebnisse waren ebenfalls beachtlich. Unter anderem hatten Smudas Jungs das deutsche Team beim 2:2 am Rande einer Niederlage.

Fazit: Sollten der Funke der polnischen Fans positiv auf das Team überspringen, müsste den Gastgebern der sichere Einzug ins Viertelfinale gelingen. Danach kann eine Menge möglich sein.

Der One-Hit-Wonder: Griechenland

Fußball wird in Griechenland wohl auf ewig mit dem Jahr 2004 in Verbindung gebracht werden. Mit einer völlig veralteten Tatik, ebenso betagten Spielern, aber unbändigem Zusammenhalt und Teamgeist und einer für südländische Teams erstaunlichen Disziplin schaffte Otto Rehhagel mit den Hellenen den wundersamen Gewinn eines der qualitativ besseren Fußballmeisterschaften der letzten Zeit. Viel ist seitdem nicht passiert. Rehhagel blieb noch bis 2010 Trainer, behielt die meisten Spieler im Kader und die Taktik sowieso. Einem Endspiel kam das griechische Team jedoch nicht mehr in Ansätzen nahe. Immerhin hat sich Griechenland nun aber bereits für das vierte Turnier im neuen Jahrtausend qualifiziert – eine Bilanz, die es früher nie gegeben hätte, zu einer Zeit, als die Geburtsstätte Europas eigentlich auch stets zu den fußballerischen Entwicklungsländern zählte. Außerdem könnte den Griechen folgendes Omen helfen: 2004 bestritt man das Eröffnungsspiel gegen den Gastgeber Portugal (und gewann 2:1), spielte dann gegen dessen großen Rivalen Spanien (1:1) und schließlich gegen Russland (1:2). Dieselbe Konstellation gibt es nun in der Neuauflage: Das Eröffnungsspiel gegen Polen, die Partie gegen Tschechien und Russland zum Abschluss. Genügt dies als Motivation, um ein weiteres Wunder zu erreichen?

Rehhagel-Nachfolger Fernando Santos hat ohne Zweifel etwas frischen Wind in die griechische Fußballszene gebracht. Dies zeigte sich zum Beispiel in der Integration einiger jüngerer Spieler. Die in Deutschland unter Vertrag stehenden Papadopoulos (Schalke), Sokratis (Bremen), Fortunis (Lautern) oder Sotorios Ninis von Panathinaikos Athen sind jeweils nicht älter als 23. Die Ergebnisse in der Qualifikation blieben allerdings so unspektakulär wie eh und je. Die Griechen stehen hinten relativ sicher, entwickeln aber auch gegen schwächere Teams zu wenig Torgefahr und siegen auf diese Weise meist nur 1:0 oder 2:0. Der Triumph über die favorisierten Kroaten und die direkte EM-Qualifikation ließen zwar aufhorchen, doch die Mannschaft wirkt oft viel zu statisch und ideenlos, um große Mannschaften ernsthaft in Gefahr zu bringen. Dementsprechend zeigen sich auch die Torquoten der Stürmer Liberopoulos (13 Tore in 74 Spielen), Salpingdis (7/55) oder Samaras (7/52). Einzig der alte Fuchs Theofanis Gekas hat mit 21 Toren in 56 Spielen eine ordentliche Bilanz aufzuweisen.

Fazit: Der Teamspirit und die taktische Disziplin von 2004 allein werden nicht noch einmal reichen, um die Favoriten zu übertölpeln. Griechenland benötigt Spieler größerer Qualität, die es nicht hat. Daher wird die EM kein Mittel sein, um das krisengeschüttelte Land ein paar Tage von den großen wirtschaftlichen und politischen Problemen abzulenken.

Der große Bruder: Russland

Dem Fußball in Russland geht es grundsätzlich gut. Das Riesenland hat wieder eine international konkurrenzfähige Liga und belohnt ausländische Spieler, die sich von der eisigen Kälte im Winter und der ziemlich fragwürdigen politischen Ausrichtung nicht abschrecken lassen, fürstlich. Russische Multimilliardäre fördern den Sport, bestimmen allerdings auch die Geschicke der Vereine, was zuweilen an Willkür grenzt. Vielleicht ist es auch die dadurch noch fehlende Professionalität gegenüber den westeuropäischen Ligen, welche Russland noch ein Stück hinterher hinken lässt. Vor vier Jahren schien man schon weiter zu sein. Zenit St. Petersburg hatte den UEFA-Cup gewonnen und das russische Team bei der EURO 2008 als Halbfinalist begeistert. Seitdem herrscht weitgehend Stagnation. Auch will sich kein rechter Weltklassespieler entwickeln. Fast alle Kicker des Kaders von Trainer Dick Advocaat spielen in der heimischen Liga, nur Pawel Progrebnyak ist beim englischen Mittelklasse-Verein FC Fulham engagiert. Möglicherweise kann Mittelfeldmann Alan Dsagoew einer werden, den nach der EM halb Europa jagt. Kann Russland aber unter diesen Umständen seiner Favoritenrolle in Gruppe A gerecht werden?

Die EM-Qualifikation schafften die Russen souverän als Gruppenerster. Die härtesten Konkurrenten waren mit Irland, der Slowakei und Armenien zwar keine Weltklasseteams, aber dennoch ordentliche Herausforderungen. Russland zeigte in der direkten Vorbereitung beim 1:1 und vor allem beim 0:0 gegen Litauen Fußball-Magerkost, fertigte dann aber in Zürich die Italiener mit 3:0 ab. Diese Ergebnisse zeigen das große Problem der Mannschaft. Ihr Leistungsgrad ist schwankungsabhängig wie ein Börsenkurs für Rohstoffe. Sie kann technisch feinen Fußball und damit den Gegner an die Wand spielen, erwischt aber zu oft auch ganz schwache Tage, an denen durch mentale Verunsicherung gar nichts geht. Meist hilft ihr allerdings ein Heimvorteil und der dürfte in vielen Partien in Polen durchaus gegeben sein.

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Fazit: Das Weiterkommen der Russen steht auf des Messers Schneide. Sollte die „Sbornaja“ wenigstens zwei gute Tage erwischen, müsste sich allerdings ihre überlegene Spielqualität durchsetzen, um die Gruppe zu überstehen.

Zurück in die Zukunft: Tschechien

Nicht Russland oder Polen und auch nicht Rumänien oder das frühere Jugoslawien ist die Mannschaft Osteuropas, welche am eindrucksvollsten in der europäischen Elite mitmischen konnte. Und immer spielte Deutschland dabei eine bestimmte Rolle. 1976 wurde die Tschechoslowakei beim berühmten Elfmeterschießen in Belgrad gegen die deutsche Elf Europameister. 1996 schafften die Tschechen als Außenseiter überraschend den Finaleinzug und musste sich diesmal den Deutschen beugen. 2004 hatte die tschechische Republik ihre wohl beste Mannschaft aller Zeiten zusammen. Damals reichte sogar die B-Elf aus, um Deutschland in der Vorrunde nach Hause zu schicken. Völlig schockierend war dann jedoch das Erlebnis des Halbfinales als eine nüchterne, langweilige und doch glückliche griechische Mannschaft das Team von Pavel Nedved nach der Verlängerung aus dem Turnier warf. Dieses Trauma wirkt im tschechischen Fußball vielleicht bis heute nach und könnte durch einen Vorrundensieg gegen Griechenland bei der EURO 2012 zumindest besänftigt werden. Doch reichte dieses, um Tschechiens Fußballfans zufrieden zu stellen?

Tatsache ist, dass Tschechiens Fußball seit 2004 im Abstieg begriffen ist. 2006 und 2008 schied man schon in der Vorrunde aus, 2010 war man gar nicht erst qualifiziert. Trotzdem zehrt der Kader noch immer von der goldenen Generation. Noch immer ist Tomas Rosicky als Kapitän dabei, noch immer befindet sich der Deutschlandschreck Milan Baros unter den Stürmern und noch immer steht mit Petr Cech einer der weltbesten Torhüter im Kasten, der unlängst mit dem FC Chelsea die Champions-League-Träume von Bayern München zerstörte. Doch während Cech noch voll im Saft steht, hat sich der Stern Rosickys und Baros' schon längst geneigt. Nach ihnen kommen eher mittelmäßige Kicker, die in der Qualifikation keine Chance gegen Spanien hatten und sich erst über Montenegro durch die Relegation quälten. Die Abwehr ist mit Thomas Hübschmann von Shakjtar Donezk, sowie den Bundesliga-Profis Roman Hubnik (Hertha), Michal Kadlec (Leverkusen) und Zdenek Pospech (Mainz) noch relativ solide besetzt. Nach vorn fällt die Qualität dann aber deutlich ab. Eher biedere Mittelfeldspieler und wenig gefährliche Stürmer stehen in Tschechiens Kader. Allenfalls Tomas Necid von ZSKA Moskau ist ein junger, hungriger Mann mit Torinstinkt.

Fazit: Bei den Tschechen muss alles zusammen passen, wollen sie an die glorreiche Zeit von 76, 96 oder 2004 anknüpfen oder auch nur Polen und Russland Paroli bieten. Spätestens im Viertelfinale ist Schluss.

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Eine Meinung

  1. Mit dem „kein wirklicher Titelfavorit“ wäre ich mir da nicht so sicher. Nach dem letzten Spiel Russlands mit Tschechien bin ich heute extrem gespannt, wie das heutige Spiel verlaufen wird. Ob Russland die EM gewinnt? Meiner Meinung nach haben sie Russen beste Chancen!

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