Germain Chazes ist augenscheinlich kein Mensch, mit dem man freiwillig Zeit verbringen möchte. Er ist ein stämmiger, ungehobelter Kerl mit losem Mundwerk. Bildung hat er kaum genossen, dafür wurde er seine gesamte Kindheit über fortwährend von seiner Mutter beleidigt und als nicht lebensfähig beschrieben. Nur seine Freundin Annette lockt die ein oder andere Sympathie aus dem bärigen Mann hervor.
Marie-Sabine Rogers Protagonisten
Dass das Denken in Schubladen durchaus nicht angebracht ist, zeigt Marie-Sabine Roger im Fall Germain nur zu deutlich. Denn er ist der Ausgangspunkt für eine wundervolle Geschichte, die Klischees bedient, sie aber immer wieder bricht.
Grummelig und wortkarg bestreitet der 45-jährige Germain seinen Alltag. Eines Tages trifft er im Park eine alte Dame, die Tauben füttert. Auch Germain mag Tauben gern und ein ungezwungenes Gespräch entwickelt sich. Die alte 86-jährige Dame namens Margueritte lebt im Altenheim. Sie ist das komplette Gegenteil von Germain: Sie ist studiert, überaus kultiviert und kann ihre Gedanken in wohl formulierte Sätze packen. Er ist groß, sie zerbrechlich. Er ist ungebildet, sie reich an Wissen. Und dennoch wird bald klar, dass eine besondere Bindung zwischen beiden herrscht.
Was Bücher bewirken können
Germain erfährt durch Margueritte das erste Mal eine Art mütterliche Beziehung. Sie hört ihm geduldig zu, lacht nicht über ihn, wenn er mit bestimmten Begriffen nichts anzufangen weiß. Und dann gelingt der alten Dame das Unglaubliche: Sie macht ihr größtes Hobby, das Lesen, zu seinem. Margueritte beginnt damit, ihrem neu gewonnenen Freund Romane vorzulesen. Weltliteratur für einen Kleingeist, Marie-Sabine Roger und die Gegensätze. Ein Ding der Unmöglichkeit? Nicht im Fall von Germain.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten wird er zu einem begeisterten Zuhörer, der bis zum Ende des Romans sogar zum Vorlesenden heranreift. Die Welt der Bücher als Perspektive für ein erfülltes Leben. Germain durchschreitet mit Hilfe Marguerittes eine Entwicklung, die ihn nicht nur für sich selbst, sondern auch endlich für Außenstehende zu einem vollwertigen Mitglied in der Gesellschaft macht.
Marie-Sabine Roger ist eine französische Schriftstellerin und studierte Lehrerin. Sie wurde 1957 geboren. Hauptsächlich publiziert sie Kinderbücher, die Anzahl ihrer veröffentlichten Romane ist aber beachtlich. Ihr berühmtester Roman „Das Labyrinth der Wörter“ wurde 2010 sogar verfilmt.
Hier ein kleiner Ausschnitt der Verfilmung mit Gerard Depardieu aus dem Jahr 2010:
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Hallo,ich habe von der Autorin „Der Poet der kleinen Dinge“ gelesen, in dem es ebenfalls um eine ungewöhnliche Freundschaft geht und dieses hier steht auch ganz weit oben auf meinem Wunschzettel. Danke für die schöne Zusammenfassung. Ich nehme sie zum Anlass das Buch endlich vom Wunschzettel zu streichen und es stattdessen in mein Regal zu stellen.