Meine Oma kennt tolle Geschichten. Aus ihrer Kindheit, aus ihrer Backfischzeit und noch welche von ganz früher. Viele davon hat sie uns Enkeln oft erzählt. Zum Beispiel, wie sie als kleines Mädchen Wildfang genannt wurde, weil sie stets mit aufgeschürften Knien nach Hause kam. Wie Sie im Schlamm spielte und nachher Schelte bekam, weil es kein Waschmittel gab. Oder von der Flucht aus Ostpreußen. Da war Großmutter noch ein Baby.
Ein Leben vor dem Vergessen retten
All die unterschiedlichen Jahrzehnte, die unzähligen Namen der Vorfahren und Vettern und Ortschaften, in denen die Familie irgendwann einmal gelebt hatte, brachten wir Enkel zeitlebens durcheinander. Ich fand das schon immer traurig. Diese Vorstellung, dass – wenn Großmutter eines Tages einmal nicht mehr sein wird – ein ganzer Schatz an Lebenserinnerungen, Anekdoten und Familiengeschichte mit ihr geht. Irgendwann habe ich sie deshalb gebeten: „Du, Oma … Erzählst du mir dein Leben?“ Diesmal jedoch hatten wir im Hintergrund ein Tonband laufen. Viele Monate später ist die Biographie meiner Oma aufgeschrieben: 120 Seiten mit Geschichten aus einem ganzen Leben, unveröffentlicht und nur für die ganz enge Familie – als Andenken schon zu Lebzeiten. Und hoffentlich noch lange darüber hinaus. Meinen Freunden hänge ich seitdem in den Ohren: „Wenn Eure Eltern und Großeltern noch am Leben sind, und wenn sie noch gut beieinander sind: Überredet sie, dass sie ihre Biographie schreiben!“
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Die eigene Biographie schreiben: Erinnerungen aus einem ganzen Leben
Der Begriff Biographie stammt aus dem Griechischen und bedeutet sinngemäß Lebensbeschreibung. Nun greift man, wenn man sein eigenes Leben beschreibt, natürlich auf seine persönlichsten Memoiren zurück. Erstaunlich dabei ist folgendes: Wir alle schreiben unsere eigene Biographie ständig und immer wieder neu. Denn der Prozess der Erinnerung ist ein hochkomplexer und dynamischer Vorgang, der sich immer wieder überlagert. So wie das Leben im Fluss ist, so ist es auch die Erinnerung: eine ständige Reproduktion der Wirklichkeit quasi. Wenn man eine Biographie hört oder liest, denkt man vielleicht, man würde dort ein Leben in seiner Ganzheit präsentiert zu bekommen. Dies kann (und soll!) Biographie jedoch gar nicht leisten. Stattdessen werden in ihr nur Fragmente mitgeteilt. Biographie ist also nicht mehr und nicht weniger als der Versuch einer rückblickenden Beschreibung vergangener Lebensrealitäten. Erst im Nachhinein können diese überblickt und interpretiert werden – und zwar immer wieder neu.
Im Alter gewinnt die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte besondere Bedeutung. Das Bedürfnis, zu resümieren und zu bilanzieren, setzt typischerweise in der ü50-Lebensphase ein. Die Lebensrückschau dient dabei dem Ziel, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, sich der Identität und des eigenen Wertes zu versichern – und diesen nach außen zu kommunizieren. Denn in den Geschichten aus einem ganzen Leben stecken die Wurzeln unseres Selbstvertrauens und unserer Individualität. Nur so verstehen wir, wer wir sind und wie wir die geworden sind, als die wir uns heute definieren.
Subjektive Wahrheit: Die Wahrheit der Selbstdarstellung
Es könnte also durchaus sein, dass sich die Lebensgeschichte, die Sie im Herbst 2012 aufschreiben, erheblich unterscheidet von jener, die Sie beispielsweise im Sommer 2020 erinnern werden. Dabei macht es übrigens auch einen erheblichen Unterschied, wem Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen. Ob in einem Bewerbungsgespräch oder in der Unterhaltung mit einem Freund, beim Arztbesuch oder wenn Sie jemanden neu kennen lernen: Sie werden Ihre Biographie selten auf die gleiche Weise beschreiben. Ein wichtiger Aspekt ist dabei immer auch die (unbewusste) Absicht einer Einflussnahme darauf, wie man von dem Gegenüber denn wahrgenommen werden will.
Dieser Punkt ist wichtig, wenn beispielsweise bestimmte Familienmitglieder zum Zeitpunkt Ihrer Biographie noch am Leben sind. Bedenken Sie: Manche Kapitel der eigenen Lebensgeschichte lassen sich womöglich nur schwer erzählen, wenn Sie gleichzeitig gehemmt sind, etwaigen Angehörigen zu nahe zu treten. Sie sollten sich daher fragen, für wen und warum Sie Ihre Lebensgeschichte aufschreiben möchten.
Sich über all diese Rahmenbedingungen der Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie bewusst zu werden, kann sehr fruchtbar sein, wenn man die eigene Biographie schreiben möchte. Im Folgenden finden Sie fünf weitere hilfreiche Tipps.