Wo ist Hesse?

„Wo ist Böll?" fragte letzte Woche Die Zeit und tatsächlich ist Hermann Hesse als der ältere dieser beiden deutschen Nobelpreisträger aktuell wesentlich präsenter. So ist dessen Gesellschafts- und Verfallskritik wohl romantischer (und zeitloser?) als Bölls Texte, die oft klar politisch motiviert daherkommen. (Kleine Randnotiz: Böll war es, der zusammen mit seiner Frau Annemarie die wohl bekannteste deutsche Übersetzung von Salingers „Der Fänger im Roggen" geliefert hat, mit dem Hesses Werk, insbesondere „Siddharta" ja gern verglichen wird und der eine ähnliche popkulturelle Erscheinung darstellt.) Gepflegtes Außenseitertum á la Hesse wird wohl nie ganz aus der Mode kommen. Und Reisen, Wandern und Sinnieren ist ja dank Hape Kerkelings Bestseller ohnehin in aller Munde.

Denn auch 45 Jahre nach seinem Tod ist Hermann Hesse eine Art Popstar – was wohl auch heisst, dass er von jungen Menschen vergöttert und von älteren mitunter belächelt wird. Seine Bücher verkaufen sich nach wie vor sehr gut, sie begleiten (und retten?) so manche Adoleszenz, sein Werk wird zitiert, unterrichtet und wissenschaftlich analysiert. Im Grunde wird täglich irgendwo auf der Welt über seine Bücher gebloggt, Wikipedia-Artikel über ihn wurden schon in über 50 Sprachen verfasst, es gibt ihm gewidmete Webseiten und auch auf youtube lebt er weiter. Person und Werk werden hoffnungslos romantisiert. Für manche schafft er es sogar noch immer in eine Art Guru-Position. Wäre er noch am Leben, könnte er also auf große Tour gehen und sich feiern lassen Vorträge halten. So wie der Dalai Lama.
Nur dass er weniger lächeln würde. Hesse ist letztlich doch irgendwie mehr grübeln und als lächeln, mehr Neurose mit Brille als Weisheit in Flip-Flops. Aber die Nähe zur Spiritualität im Allgemeinen und dem Buddhismus im Besonderen ist ja auch bei Hesse ein nicht unerheblicher Faktor. Beide sind Juli-Kinder, beide bieten inhaltliche Hilfe auf den Wegen zu Erleuchtung und Sinn, beide haben den Nobelpreis bekommen, beide sind (obwohl aus dafür eher untypischen Genres) Phänomene der Popkultur.

Hesses Werke können gerade jungen Menschen sehr hilfreiche Ermahner und Ratgeber sein, Beistand und Denkanstoss in Zeiten voller Fragen und Zweifeln. Mitunter auch eine Flucht. Voller Inbrunst habe auch ich früher Hesse gelesen, mich damit durch dunkle Zeiten gelotst und mit seiner Hilfe eine Hassliebe zur Einsamkeit und einer gewissen Ruhelosigkeit entdeckt. Sein Name ist schon fast Klischee der Sinnsuche-Jugend geworden.

Ein paar Jahre später, als inzwischen zu etwas mehr Abgeklärtheit und einem gewissen Zynismus herangereifte/r Leser/in, können seine Lyrik und Prosa manchmal etwas nah an Naivität und sogar Kitsch wirken. Nichts ist nun leichter, als sich ein bisschen über ihn lustig zu machen. Und damit über sich selbst in den Jahren des Heranwachsens, der unerschütterlichen Ideale, des von niemandem verstanden werden wollen. Der Spiegel nannte Hesse einen „Märchenonkel" und mir fällt es heute tatsächlich schwer, seine Gedichte und die Bücher meiner Suhrkamp-Jubiläumsausgabe mit der Begeisterung vergangener Jahre zu lesen.

Aber Fakt ist: Hermann Hesse ist auch 45 Jahre nach seinem Tod einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren aller Zeiten. Und das ist auch gut so.

siehe auch: popkulturelle Hesse-Referenzen (engl.)

 

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Eine Meinung

  1. Auch ich halte Hesse für überschätzt. Dennoch oder deswegen freue ich mich, hier derart unterhaltsame Gedanken über ihn lesen zu können.

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