Nun war Theodor Mommsen (1817-1903) zwar tatsächlich in erster Linie Historiker, hat aber deswegen noch nicht komplett ohne dichterische Nuancen gelebt und gewerkelt. So gab er 1843 die Gedichtsammlung „Liederbuch dreier Freunde" heraus. Übrigens zusammen mit seinem jüngeren Bruder Tycho Mommsen und dem aufstrebenden Dichter Theodor Storm. Dennoch konzentrierte er sich dann erst mal auf seine Lehrtätigkeiten und Altertumsforschungen. Bevor ihm im Jahr 1902 der Nobelpreis für Literatur mit der Begründung verliehen wurde: „dem gegenwärtig größten lebenden Meister der historischen Darstellungskunst, mit besonderer Berücksichtigung seines monumentalen Werkes ‚Römische Geschichte". Dieses (fraglos sein berühmtestes) Werk war 1854 bis 1856 in drei Bänden erschienen. Es behandelte die Geschichte Roms, zog kluge Parallelen zu aktuellen politischen Fragen und wurde schnell zum Klassiker der Geschichtsschreibung.
Aber ist es nicht von einer gewissen Absurdität, wenn man einem Geschichtsbuch einen derart hohen literarischen Rang zuspricht wie die Akademie es seinerzeit getan hat?
Nur, soweit man den heute geltenden Literaturbegriff zugrunde legt. Denn über Jahrhunderte wurden unter Literatur sprachliche Überlieferungen im weitesten Sinne verstanden. Zu Mommsens Zeit begann sich dieser Begriff erst langsam auf künstlerische Schriften mit Interpretationsmöglichkeit und -bedarf zu verengen, also vor allem auf Romane, Gedichte und Dramen („schöne Literatur"). Das bisherige Hauptthema der Literatur -die Beschreibung und Überlieferung von Wissenschaften- wich Stück für Stück dem, was zuvor als geradezu außerhalb von „Literatur" zu sein schien: Fiktion.
Mommsens „Römische Geschichte" bewegte sich an der Grenze dieser Begriffsbedeutungsverschiebung. Einerseits auf Forschung und Fakten gestützt, in dem Versuch anschaulicher Darstellung aber nach heutigen Maßstäben nicht mehr wissenschaftlich genug. Ohne Fußnoten, dafür voller persönlich angehauchter Gegenwartsbezüge und Analysen. Trotzdem ein noch immer gut lesbares Werk zur Einführung in ein Geschichtsfeld, in das der wissenschaftlich Interessierte dann aber mit Hilfe anderer Werke tiefer eindringen sollte.
So undenkbar es heute wäre, dass jemand diesen Preis bekommt, der/die kein(e) Schriftsteller(in) ist, so wenig absurd und unverdient war also dessen Verleihung im Jahr 1902.
Bild: www.mommsen.de
Schön dass an diesen Großen seiner Zunft auch mal wieder erinnert wird. Es gab „echte“ Literaten die den Preis weniger zu Recht bekommen haben. IMHO, natürlich.
Mal ganz abgesehen davon, dass Mommsen nicht der Einzige war, der als „Nicht-Schriftsteller“ ausgezeichnet wurde: Auch Winston Churchill erhielt den Literatur-Nobelpreis für seine Geschichte des zweiten Weltkrieges. Literatur ist eben nicht nur Belletristik.