In »Der Affe in uns« (»Our Inner Ape«) beschäftigt sich de Waal weit stärker als in den vorangegangenen Büchern (»Wilde Diplomaten«, »Der gute Affe«, »Der Affe und der Sushi-Meister«) außer mit Schimpansen und Bonobos auch mit dem Menschen. Ausgehend von den Versuchen anderer Primatologen und Verhaltensforscher, den Menschen durch Vergleiche mit seinen nächsten evolutionären Verwandten zu begreifen und einzuordnen, entwickelt »Der Affe in uns« eine Position, die die Menschen in einer doppelten Perspektive in das Kontinuum der Primaten einzugliedern versucht. Auch de Waal glaubt, dass der Mensch in vielen seiner wesentlichen Eigenschaften eine tiefe Verwandtschaft mit Schimpansen oder Bonobos aufweist, aber er betont eben zugleich, in welchen Fällen, auf welche Weise und unter welchen Umständen der Mensch die Verhaltensweisen unserer gemeinsamen Vorfahren modifiziert und ihre Grenzen im Guten wie im Bösen überschritten hat.
Gab es etwa nach der Entdeckung der Tatsache, dass Schimpnasen untereinader Krieg führen und Mitglieder anderer Schimpansengruppen absichtlich töten, den Versuch, den Menschen als ins Extrem pervertierten Raubprimaten zu begreifen, so weist de Waal darauf hin, dass wir nicht nur die Aggressionen mit den Schimpansen teilen, sondern auch das Vermögen, Frieden zu stiften und Konflikte zu vermeiden. Es gelingt ihm mit wenigen, prägnanten Beispielen, Schimpansen und Bonobos mit ihren unterschiedlichen sozialen Gefügen darzustellen und zu zeigen, dass der Mensch seine beiden nächsten Verwandten im Tierreich in beiderlei Hinsicht – Aggression gegen die eigene Art und Fähigkeit, Frieden zu halten – übertrifft: Ihm gelingt es sowohl, sich seine Artgenossen soweit zu entfremdem, dass er gewissenlos Genozid betreibt, als auch ist er in der Lage, über lange Perioden in und mit großen Gruppen Frieden zu wahren und Konflikte auszugleichen, anstatt sie eskalieren zu lassen.
Der Leser lernt während der Lektüre Schimpansen und Bonobos als erstaunlich sensible, einsichtsvolle und sozial hoch kompetente Lebewesen kennen. Es entsteht der Eindruck, dass die soziale Komplexität innerhalb einer Gruppe von Primaten, ihr Verständnis für die Zusammenhänge ihrer Gesellschaft und ihre Fähigkeit innerhalb dieser Zusammenhänge die Interessen des Individuums und der Gruppe ins Gleichgewicht zu bringen, mit denen in der menschlichen Gesellschaft durchaus vergleichbar sind. Sicherlich sind die Ausdrucksformen andere, aber wir haben keinerlei Schwierigkeiten, die grundlegenden gesellschaftlichen Bedingungen einer Primatengesellschaft zu verstehen, eben weil wir sie in unseren eigenen Lebenszusammenhängen nur zu gut wiederkennen.
Sicherlich ist auch de Waals Blick auf den Menschen verkürzt, aber das ist dem Autor durchaus bewusst. Er versucht auch nicht ein Buch über den Menschen als Kulturwesen schlechthin zu schreiben, sondern er blickt auf die Menschen und ihre Gesellschaft mit dem geschulten Blick eines Primatologen. Und er erkennt vieles wieder – und wir mit ihm. Natürlich gibt es im Leben der Menschen noch andere Bedürnisse als Sex und Nahrung. Aber es gibt eben auch diese beiden Bedürfnisse und was sie betrifft, so unterscheiden wir uns zwar deutlich von Schimpansen und Bonobos, aber doch wieder nicht so wesentlich, dass wir uns nicht in de Waals Erzählungen wiedererkennen würden.
Selbst wenn man am Ende einige der Schlussfolgerungen de Waals nicht teilen mag, ist das Buch eine anregende und in vielen Fällen horizonterweiternde Lektüre. Auch wenn es am Ende nicht unseren Blick auf den Menschen verändert haben sollte, so werden wir doch auf jeden Fall für Schimpansen und Bonobos weit mehr Respekt aufbringen, als wir es vielleicht bislang getan haben. In jedem Fall ist das eine Lektüre wert.
Frans de Waal: Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind. Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert. München: Hanser, 2006. Pappband, 366 Seiten. 24,90 €.