»Die heißlaufende Info- und Entertainment-Gesellschaft«

Denn unter dem Titel »Proviant für die Zukunft« wollen sie uns nicht nur den zusammengelaufenen Bücherhaufen als »Kanon« von Büchern, von denen »man sich nicht mehr trennen möchte«, verkaufen, sondern man serviert uns als Dreingabe auch gleich noch eine komplett neue Bestseller-Theorie:

Das skandalös gute Gewissen der SPIEGEL-Redakteure bei ihrer Bestseller-Auswahl setzt einen Gesinnungs- und Stimmungswandel in dieser Sache voraus, der viele Komponenten hat. Der asketische Kultur-Utopist mit sperriger Ware ist nicht mehr unbedingt als Alleinvertreter der Wahrheit geadelt. Wahrheit findet sich auch in dem, was amüsiert, was gemocht wird, was die Lebensstile, Gedankenflüge und Träume der vielen beflügelt.

Zunehmend dürfen auch in den Feuilletons Bestseller von John Updike, Thomas Brussig, Salman Rushdie oder Zeruya Shalev die Grundüberzeugung des Bestsellerautors Marcel Reich-Ranicki ("Mein Leben") bestätigen, dass formal ehrgeizige, intelligente Literatur sehr wohl unterhaltsam sein kann.

Was die SPIEGEL-Edition aus fast einem halben Jahrhundert Bestselleritis herausgefiltert hat, kann sich gerade unter diesem Gesichtspunkt sehen lassen: Der Buchmarkt, so zeigt sich, gab reihenweise Titeln die Ehre, die tief ins Zeitgeschehen griffen, in die Abgründe der Geschichte und der Gefühle. Das gilt für Joachim Fests geistesgeschichtlich anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Monstrum Hitler ebenso wie für Barbara Tuchmans farbig erzählte Exkursion ins 14. Jahrhundert, für Christoph Ransmayrs verrückt genaue Suche nach dem Dichter Ovid oder Peter Handkes Liebesleidensreise im "Kurzen Brief zum langen Abschied".

Versuchen wir das doch gerade mal in eine Relation zu setzen, damit wir begreifen, was da steht: Dass die SPIEGEL-Kulturredakteure es geschafft haben, aus mehreren Tausend Titeln, die seit 45 Jahren auf den Bestsellerlisten des SPIEGEL aufgetaucht sind, »reihenweise« 40 einigermaßen ordentliche Bücher auszuwählen, soll ein Beleg dafür sein, dass »der Bestseller« besser ist als sein Ruf. Was für eine tiefgründige Argumentation! Da wundert’s nicht, wenn’s gleich zuvor heißt, wir lebten »in einer sich beschleunigenden, ja heißlaufenden Info- und Entertainment-Gesellschaft« – diese Vermischung von redaktionellem Gefasel und Werbung in eigener Sache ist ein handfester Beleg dafür.

Ansonsten ist die Reihe recht nett geraten und – wie fast alle diese Reihen – so nötig wie ein Kropf, da alle Titel auch leicht und preiswert in anderen Ausgaben erhältlich sind. Einige wenige Überraschungen haben mich gefreut: Milan Kunderas »Der Scherz« zum Beispiel, das wahrscheinlich seine komplette spätere Produktion überragt, oder Michail Bulgakows »Der Meister und Margarita«, das für einen ehemaligen Bestseller heute schon wieder merkwürdig unbekannt ist. Ansonsten finden sich wie gewohnt viele Titel, die zahlreich gekauft und selten gelesen wurden – wie das bei Bestsellern eben so ist. Es soll allerdings vereinzelte Leser geben haben, die Christoph Ransmayrs »Die letzte Welt« mit Genuss und bis zum Ende gelesen haben; die mindestens 30.000, die es für einen Bestseller braucht, waren das aber nie und nimmer.

2 Meinungen

  1. susanne limmroth-kranz

    ich gebe dir im prinzip recht und ich bin auch langsam genervt von den vielen reihen, boxen und kassetten. egal ob aus der brigitte hervorgegangen, dem stern, der süddeutschen oder so wie jetzt dem spiegel. getoppt wird das ganze allerdings von der neuen „bild“ erotik bibliothek. schon gesehen?allerdings muss ich auch anfügen, dass ich finde, dass die auswahl des spiegels, egal, ob über die bestsellerlisten oder anderes generiert, m. e. nicht so schlecht ist. und das bücher wie golo mann „wallenstein“ oder mandelas erinnerungen auf diesem wege noch weitere leser finden, wäre und ist ja auch nicht zu verachten. ich plädiere für leseförderung, denn dass ist die einzige rechtfertigung für diese kompakten lesevorgaben, dass alte bücher, die aus den sogenannten backliste-bereichen ,wieder an den leser kommen. bestsellerdefinition hin und her. die neuen bücher von grass und der von kürthy, werden auch in riesenauflagen vermarktet werden, und ob ich denen neue und viele leser wünsche, das weiß ich nicht so genau. was mich stört ist an diesen „sammlungen“ vor allem diese sammelleidenschaft wie bei pannini bildchen jüngst anlässlich der wm. es geht oft mehr um die vollständigkeit, als um die bücher. wieviel altpapier, das niemals recycelt wird auf diesem wege poduziert wird, daran mag ich gar nich tdenken. in 10 jahren werden die tische der kirchenbasare , abteilung „bücherflohmarkt“ sich biegen von diesen titeln und hörbüchern. übrigens: du warst schneller als ich , ich hatte auch was dazu in arbeit…upps, ich habe eben meinen ersten kommentar geschrieben!

  2. Ja, die BILD Erotik-Bibliothek hat den Zeitgeist gut eingefangen! Diese Redaktion hat doch eine andere Sensibilität für die Bedürfnisse der Leser! Und dann noch die geschmackvollen Titelbilder! ;-)Ansonsten bin ich bei meiner Einschätzung der SPIEGEL-Reihe im letzten Absatz mit Dir ja ganz grundsätzlich einer Meinung. Nur eben dieses pseudo-intellektuelle und -witzige Geschwafel, das SPIEGEL online als Werbung bringt, finde ich »grenzwertig«, um es freundlich zu sagen. Was mich wirklich erstaunt hat, ist, dass Volker Hages Name mit drüber steht; bei Matussek wundert mich inzwischen gar nichts mehr.

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