Die Britannica lesen ?

Die Geschichte, die Jacobs von seiner Lektüre erzählt, ist von Anfang an eine sehr persönliche: Er versucht nämlich mit seiner Lektüre der Britannica seinen Vater zu übertreffen, einen erfolgreichen Anwalt, der auch einmal damit begonnen hatte, die EB zu lesen, aber früh schon stecken geblieben war. Außerdem versuchen Jacobs und seine Frau seit einiger Zeit ein Kind zu bekommen und angesichts der von seinem Sprößling zukünftig zu erwartenden Fragen will Jacobs dringend etwas für seine Bildung tun. Er arbeitet als Journalist beim New Yorker Magazin »Esquire«, und wie vielen Menschen fürchtet er langsam zu verblöden, nachdem er mit dem aktiven Lernen aufgehört hat. Und last not least will er mit seinem neu erworbenen Wissen auch ein wenig angeben und auftrumpfen – aber das legt sich mit der Zeit.

All dies führt dazu, dass er sich die aktuelle Ausgabe der EB (2002) bestellt und einfach bei A mit dem Lesen beginnt. Dazu muss man denjenigen, die nie in die EB hineingeschaut haben, erklären, dass die EB grob gesprochen in zwei Teile gegliedert ist (eigentlich sind es mehr, aber das soll uns hier nicht interessieren): Von den 29 Lexikon-Bänden sind nur die ersten zwölf so aufgebaut, wie man es von einem »normalen« Lexikon kennt: Viele Stichwörter und zu jedem eine mehr oder weniger kurze Erklärung, eventuell einige Hinweise zur weiteren Lektüre – fertig, nächstes Stichwort. Diese Bände 1–12 heißen Micropædia, durchlaufen das gesamte Alphabet und umfassen gut 13.000 Seiten. Auf sie folgen 17 weitere Bände (13–29), die Macropædia, etwa 20.000 Seiten (jede Seite der Britannica umfasst dabei den Text von mehr als vier (!) Schreibmaschinenseiten), die nur durch etwa 600 Stichwörter gegliedert sind. Zu jedem dieser Stichwörter bietet die Macropædia einen umfassenden Einführungstext. Um das in diesen umfangreichen Texten enthaltene Wissen sinnvoll aufzuschlüsseln, verfügt die EB über zwei zusätzliche Indexbände.

Durch diesen Aufbau ist die EB wie kein anderes Lexikon für eine vollständige Lektüre geeignet, denn die Nutzer bekommen in der Macropædia große Wissensgebiete in systematischer Darstellung präsentiert. Und so liest Jacobs sich durch beide Teile der EB zugleich, immer dem Alphabet folgend. Das Glück für die Leser des Buches ist nun, dass Jacobs ein witziger Kopf ist, der uns nicht nur an ausgewählten Stichwörtern seiner 15 Monate dauernden Wissens-Odysee teilnehmen lässt, sondern der uns auch erzählt, wie seine Frau, seine Verwandten und Bekannten, nicht zuletzt seine Kollegen auf sein Projekt reagieren, wie ihn das Wissen verändert, was ihn betroffen macht, was ihm merkwürdig vorkommt usw. usf. Jacobs kümmert sich überhaupt um die Kultur und den Kult der Information: Er interviewed den Moderator von »Jeopardy!« und wird Kandidat beim amerikanischen »Wer wird Millionär?«, nur um an der 32.000-$-Frage zu scheitern, weil sein Gedächtnis und sein »allwissender« Telefonjoker versagen. Und schließlich besucht er die Redaktion der Britannica in Chicago und macht unmittelbare Bekanntschaft mit der mühsamen Arbeit der Lexikon-Recherche.

Und nebenher versöhnt er sich mit seinem Vater, zeugt mit seiner Frau endlich ein Kind, lernt lauter Sachen, die er vorher nicht wusste, erinnert sich an Dinge und Zusammenhänge, die er schon einmal vergessen hatte, und behält zugleich seine Distanz zu all dem, was er da liest. Mit der Zeit kennt er den Jargon der Britannica und benennt ihn auch, er lernt ihre Vorlieben und Idiosynkrasien (gleich mal im Lexikon nachschlagen, was das nun wieder bedeutet!) erkennen, schärft seinen Blick für Skurriles, Absurdes und Erschreckendes. Und das wichtigste: Er hält durch! Nach 15 Monaten kommt er tatsächlich beim Stichwort »Żywiec« an und hat es geschafft. Er gibt zu, nicht jedes Wort und nicht jede Seite stets mit der gleichen Aufmerksamkeit studiert zu haben, aber er hat alle Seiten gelesen. Was er tatsächlich davon behalten hat und wird, wird keiner – auch er selbst nicht – jemals wirklich wissen.

Das Buch ist vom Verlag List sorgfältig und liebevoll ausgestattet worden: Es hat einen Goldschnitt (sogar an allen drei Schnitten, wo sich die EB mit einem vergoldeten Kopfschnitt begnügt), ein Lesebändchen, trägt das Markenzeichen der EB, die schottische Distel, auf dem Umschlag und am Fuß jeder Seite, hat lebende Kolumnentitel, die das jeweilige Stichwort, bei dem man sich gerade befindet, anführen und – natürlich! – ein Register. Einzig Kunstledereinband und Fadenheftung fehlen, aber die hätten das Buch nur unvernünftig teuer gemacht. Ein Reiseabenteuer durch die Wissenskreise, eine äußerst vergnügliche und intelligente Unterhaltung zwischen Sachbuch und Autobiographie. Ich habe mich lange nicht mehr so vergnügt mit einem Buch unterhalten!

A. J. Jacobs: Britannica & ich. Von einem, der auszog, der klügste Mensch der Welt zu werden. Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr. List, 2006. Pappband mit Schutzumschlag und Lesebändchen. 427 Seiten. 19,95 €.

4 Meinungen

  1. Schön, daß Ihnen die Lektüre soviel Spaß gemacht hat. Weniger schön, daß Sie den Namen des Übersetzers – nämlich meinen – in den bibliographischen Angaben unterschlagen. Herr Jacobs hat sein Buch ja schließlich nicht auf Deutsch geschrieben . . .Mit besten GrüßenThomas Mohr

  2. Da haben Sie natürlich recht, besonders weil Ihre Übersetzung ganz wesentlich zu meinem Vergnügen beigetragen hat! Ich habe die Angaben ergänzt.

  3. Danke. 😉 TM

  4. Wer weiß schon genau, welche Form ein Zwergenhintern hat, aus wie vielen Billionen Zellen der menschliche Körper besteht und dass eine Abalone weit entfernt ist von einer Melone, vor allem, was ihr Stuhlgangsverhalten angeht? Geschickt und humorvoll führt Jacobs durch teilweise durchaus schwer verdauliche Lesekost. In diesem Werk tauchen Worte auf, die nicht unbedingt zum Allerweltssprachschatz gehören. Der Autor allerdings weiß um diese Tatsache und spielt damit. Denn auch ihm geht es nicht anders als dem Leser selbst. Als leichte Lektüre getarnt entpuppt sich „Britannica & ich“ schnell als ein Werk, das man nicht einfach so am Stück schmökern kann. Es eignet sich vielmehr dazu, es mehrmals am Tag zur Hand zu nehmen und seinem Wissen ein paar amüsant verarbeitete Stichworte hinzuzufügen. Besonders empfehlenswert ist der Absatz über das Denken, in dem er sich nicht nur mit dem Thema Intelligenz an sich beschäftigt, sondern sich auch außerordentlich kritisch mit dem von ihm als Gesäßvioline bezeichneten Yale-Professor Dr. Sternberg auseinandersetzt – der US-amerikanischen Kapazität auf diesem Gebiet. Und auch wenn man nach der Lektüre von „Britannica & ich“ durchaus ein paar Fragen mehr bei Günther Jauch beantworten könnte, so weiß man doch am Schluss, dass man eigentlich nichts weiß.

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