Der künstlerische Präsentierteller, den man auch Bühne nennt, kann schnell zu einer Bratpfanne werden. Da hat man monatelang auf diesen Augenblick hingearbeitet, Noten studiert, monotone Fingerübungen geprobt, nur um sich in diesen wenigen Minuten gefeiert zu fühlen. Und dann das: niemanden interessiert’s. Plötzlich zittern die Hände, Schweißperlen stehen auf der Stirn, das ewig Erprobte will nicht mehr gelingen. Dann wünscht man sich ein tief klaffendes Loch herbei, um dort im Verborgenen jene qualvollen Sekunden der Scham und des Versagens zu überstehen.
Genau dieses Horrorszenario ist eine der ersten Szenen des von Denis Dercourt inszenierten Films „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“. Mélanie, eine junge Fleischertochter, setzt all ihre Hoffnungen und Träume in die romantische Idee einer Pianistenkarriere. Sie will in die Fußstapfen der großen Virtuosen treten und wartet voller Spannung auf den ersehnten Moment, vor der Jury eines Pariser Konservatoriums ihr Können zu beweisen. So beginnt der erste Schritt in der Karriere eines jeden Musikers, das weiß auch Melanie. Als es dann zu dem verheißungsvollen Auftritt kommt, springen die Finger akkurat über die Tasten. Die Jury kommentiert die brillant proportionierten Klänge mit wohlwollendem Lächeln. Unerwartet öffnet sich die Tür. Eine Frau läuft durch die Reihen, um von einem der Jurymitglieder ein Autogramm zu ergattern. Dieses unvorhersehbare Ereignis irritiert die junge Pianistin, so dass sie jedes Gleichgewichtsgefühl verliert und die letzten Takte mit schrägen Dissonanzen beschließt, zum Leid der nun Kopf schüttelnden Jury. Melanie, von dem Ereignis tief gekränkt, entschließt sich, das Klavierspiel für immer aufzugeben. Zuhause steckt sie die Beethovenbüste zurück in die Verpackung und sperrt sie in den Schrank. Das vorschnelle Ende eines künstlerischen Traums.
Jahre später sieht man das gereifte Mädchen in einer Anwaltskanzlei, wo sie ein Praktikum absolviert und mit ihrem Fleiß die Mitarbeiter überzeugt. Der Chef der Kanzlei sucht nach einem Kindermädchen für seinen Sohn Tristan. Melanie bietet sich an und erhält den Job. Als sie in das Haus der gut betuchten Familie eintrifft, zeigt sich die Schicksalhaftigkeit ihrer Entscheidung: Die Frau des Anwalts ist eben jene Gestalt, die damals den Vorfall im Konservatorium verschuldete. Ariane, (Catherine Frot) ist eine bekannte Pianistin, die nach einem traumatischen Erlebnis selbst die geistige Fesslung des Lampenfiebers zu spüren bekommt. Ob Zufall oder wohl durchdachter Plan – Melanie ist ihrer Feindin endlich ganz nah und sieht sich mit ihren Rachegelüsten aus der Kindheit konfrontiert.
„Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ ist ein stiller Film, der zwar mancherorts vorhersehbar und konstruiert daher kommt, dennoch für spannende Momente sorgt, die dem Zuschauer den Atem rauben. Das langsame Tempo erlaubt den Gesichtern Aufmerksamkeit zu schenken; sie zu studieren und zu deuten und sich mit den spielerischen Andeutungen der Regieführung auseinander zu setzen. Nie ist ganz klar, ob sich hinter den Zügen Melanies Kalkül verbirgt oder ob es sich um eine Aneinanderreihung von Zufällen handelt. Am Ende fühlt man jedoch den Satz bestätigt, dass jeder sich im Leben immer zweimal trifft.