Ist die Informationsübertragung wirklich so einfach? Weshalb nerven Mütter ihre Kinder mit dem Satz: "Ich habe dir doch schon hundertmal gesagt, du sollst dein Zimmer aufräumen!"? Obwohl es zu keinem Zeitpunkt »Störungen« und »Rauschen« auf dem Kommunikationskanal gegeben hat? Warum klagt jede neue Bundesregierung von Neuem, „die Bürger hätten die Reformmaßnahmen nicht verstanden"? Trotz der millionenschweren Kampagnen in allen Medien.
Der Grund ist einfach: Die Kommunikation zwischen Menschen verläuft nicht analog derjenigen zwischen technischen Datentransfereinrichtungen, für die das Shannon-Weaver-Modell einzig und allein einst entwickelt wurde. Menschen sind biologische, lebende Systeme für die andere Bedingungen gelten. Insbesondere der Empfänger ist heute in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Für ihn gilt heute in etwa der folgende Sachverhalt: „Im aktiven Prozess der Wahrnehmung selektieren das Gehirn und die Sinnesorgane diejenigen Reizzusammenhänge aus der Umwelt, die aufgrund subjektiver Erwartungen und Vorerfahrungen wichtig sind. Die Kriterien der Bedeutungshaftigkeit entstammen dabei dem kognitiven System selbst und sind nicht in den Umweltreizen angelegt; das Gehirn hat sie im Laufe seiner Evolution in Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelt. (…) Das kognitive System bezieht sich bezüglich der Auswahl wahrgenommener Reize und der Art ihrer Bearbeitung ausschließlich auf sich selbst: Es konstruiert seine Umwelt grundsätzlich selbstreferentiell". Kürzer gefasst: Der Empfänger nimmt strikt nur das wahr, was FÜR IHN von den eintreffenden Außenweltreizen („Botschaften") relevant ist. Das dagegen, was der Absender für wichtig hält, kann der sich »in die Haare schmieren«, wenn er es nicht so zu sagen versteht, dass der Empfänger es als FÜR IHN wichtig wahrnimmt.
Das obige Zitat entstammt nicht irgendeiner hochgestochenen neurobiologischen Arbeit im Gefolge des Radikalen Konstruktivismus, es steht in einem praxisorientierten Buch zum Berufsbild des Texters für Massenmedien und illustriert nur die »kopernikanische Wende«, die in der Kommunikationstheorie stattgefunden hat – fort vom »Sender«, hin zum »Empfänger«.
Der Text ist deshalb so kompliziert, weil die Sachlage komplex geworden ist: Jede Information ist eine aktive Tätigkeit des Adressaten, sie steckt nicht »selbstverständlich« in unseren Botschaften drin. Nicht wir entscheiden, ob wir jemanden erfolgreich informiert haben, sondern der Empfänger unserer Botschaft entscheidet darüber, ob er informiert worden ist – oder ob er sich zumindest informiert fühlt: „Wir müssen Vorträge, Bücher, Diapositive, Filme usw. nicht als Information, sondern als Träger potentieller Information ansehen. Dann wird uns nämlich klar, dass das Halten von Vorträgen, das Schreiben von Büchern, die Vorführung von Diapositiven und Filmen usw. kein Problem löst, sondern ein Problem erzeugt: nämlich zu ermitteln, in welchen Zusammenhängen diese Dinge so wirken, dass sie in den Menschen, die sie wahrnehmen, neue Einsichten, Gedanken und Handlungen erzeugen." Der Reiz, den wir erzeugen, muss stark genug sein, um für die Wahrnehmung des Empfängers einen „Unterschied" zu machen, so ließe sich das Problem vorläufig lösen. Der Stil ist dabei ein Mittel, mit dem wir Wahrnehmungsanreize erzeugen können, die stark genug sind, dass ein Empfänger sich selbst freiwillig „informiert".
Für die Haltung, die wir als „Verfasser" in Kommunikationsprozessen einzunehmen haben, hat das fundamentale Auswirkungen. Selbstgerechte Sätze wie »Ich habe doch alle benachrichtigt!« sollten wir aus unserem Repertoire streichen. Weil sich offensichtlich NICHT alle angesprochen und „informiert gefühlt" haben. Der Texter eines Informationsangebotes hat damit seine Zielgruppe 'falsch' informiert: Obwohl er sie im Sinne von Shannon-Weaver sehr wohl informiert hat, indem er seine Nachricht von A nach B 'sandte'. Er hat aber komplett die Reizschwelle seiner Leser ignoriert, weil er meinte, nur auf die Inhalte achten zu müssen und ungestraft Langeweile verbreiten zu dürfen.
Die neue, komplexere Sachlage gilt ausnahmslos für alle Texte. Es gibt niemals eine Holschuld des Empfängers, es gibt immer nur eine Bringschuld des Schreibers: Wenn ich ein Mailing verfasse und dabei eine Response-Quote von drei Prozent erziele, dann ist dies einerseits beachtlich, der Kunde ruft mich beim nächsten Auftrag wieder an. Andererseits ist dieser Rücklauf aber nur ein kleiner, relativer Erfolg, denn es mir eben NICHT gelungen, 97 Prozent potenzieller Kunden zu „informieren", sie also – wie gewünscht – „In-Formation" zu bringen. Eine Misserfolgs-Quote, die bei jeder Kommunikation ganz normal ist: WIR ERREICHEN VIELE MENSCHEN NICHT! Zumindest nicht im ersten Anlauf – und fast niemals mit bloßen Inhalten. Das sollten wir immer im Kopf behalten. Wer jemals mit einem Thema wie der allgemeinen AIDS-Aufklärung befasst war, wer jemals Menschen ein Angebot unterbreitete oder ihnen einen drögen Sachverhalt zu erläutern hatte, der sollte jetzt zustimmend mit dem Kopf nicken.