Schau mir in die Augen, Kleines!

Was tut man, wenn man seiner/seinem Liebsten nicht in die Augen sehen kann. Weil der-/ diejenige blind oder weil es stockdunkel ist? Beides ist mir an diesem Wochenende passiert.
Alles fing mit einem Gutschein für 2 Personen für das Dunkel-Restaurant in der Berliner Gormanstraße an. Mit zunehmender Nähe wurde der Liebsten immer mulmiger, und zu sagen wusste sie im Moment auch nicht so richtig was. Bei Eintritt in das Lokal wird man nett von drei jungen Damen empfangen, denen ich mich zuerkennen gab, da man fürs Wochenende zwingend Plätze vorbestellen sollte, den Gutschein avisierte, damit es nicht zu Differenzen im Kassengeschehen kam. Eine der jungen Damen führte uns zur Garderobe und bat uns schließlich in die Lounge. Wir nahmen dort in zwei netten Ledersesseln Platz und warteten, bis uns die verschlüsselte Speisekarte gebracht wurde. Wir konnten zwischen einem vegetarischen und einem fisch-, fleischhaltigen und einem Überraschungsmenü wählen. Bis die Kellnerin zu uns kam, wir wussten immer noch nicht, was denn passieren würde, saßen wir doch etwas verunsichert rum, sahen aber gleichzeitig, dass es den anderen Pärchen und Grüppchen ebenso mulmig war. Sylvia kam, nahm unsere Bestellung auf und empfahl uns einen vortrefflichen Weißwein, eine Flasche stilles Wasser und sagte: „Nur noch einen Moment bis Jürgen kommt, das ist euer Kellner, der bringt euch an den Platz."
Jürgen kam .Ein nicht so großer, etwas rundlicher junger Mann, der sich vorstellte: „Ich bin der Jürgen. Ihr habt doch nichts dagegen, dass ich euch duze. Bitte gebt mir eure Leuchtuhren und Feuerzeuge, ich bringe euch durch die Nacht. Es ist überall dunkel. Mir macht es nichts aus. Ich bin blind."
Damit hatten wir nun doch nicht gerechnet.
Jürgen: „Haltet euch mit beiden Händen am Vordermann fest." In meinem Fall war Jürgen der Vordermann, der uns mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Finsternis führte und mit ziemlichen Tempo. „So, hier bleibt ihr stehen, bis ich euch hole. Ich muss die letzten zuerst an ihren Platz bringen, dann hole ich euch wieder ab."
Und verloren standen wir wie zwei Schäfchen auf der großen Wiese, und uns umgab das große Nichts. Stell dich in einen Raum, schließ die Augen und du fühlst dich annähernd wie wir. Bloß wir hatten die Augen auf.
Jürgen erlöste uns und brachte uns sicher an unsere Plätze. Um den Tisch herum tastend fand ich mein Plätzchen, und meine Partnerin der Nacht erfühlte sich ihren Stuhl. Jürgen kam: „Ich decke erstmal den Tisch für euch." Er legte ein Platzdeckchen vor uns und das Besteck an seinen Platz. „Achtung, jetzt kommen das stille Wasser und der Wein, und davor stelle ich die Gläser. Du kannst ja schon mal eingießen!" Damit meinte er mich. Jürgen verschwand. „Siehst du die Gläser?" fragte meine Begleiterin. „Nee", ich fühle noch", sagte ich. Etwas langes Schmales kam in meine linke Hand. Das Glas! Und kurz danach kam die Flasche mit dem Wasser. Ich fummelte den Verschluss ab und goß neben mir das Glas ein und fuhr mit meiner Hand und dem Glas an der Tischkante entlang, um es meiner Begleiterin zu reichen. „Bist du da?" „Ja," kam es ängstlich aus der Dunkelheit. „Auf den Schreck könnte ich auch ein Gläschen Wein nehmen", sagte sie. Wir versuchten anzustoßen, was auch einigermaßen gelang. In diesem Moment kam Jürgen mit dem Salat. Ich versuchte mir, die Gabel zu erfühlen. Sie lag immer noch an dem Platz, an den Jürgen sie gelegt hatte, und ich versuchte, die Blätter aufzugabeln, und irgendwo auf meinem Teller schienen noch Erbsen zu sein. „Wer nie Salat im Dunklen aß…!" Nach vier wohlschmeckenden und überraschenden Gängen unserer Menüs und einem sehr süffigen Wein haben wir Jürgen gerufen. Er nahm uns ins Schlepptau, und wir trotteten wissend aus der Dunkelheit. Wir verabschiedeten uns, setzten uns in die Lounge und nahmen noch einen Grappa und einen Cappuccino.
Es war ein spannender Abend. Jeder, der ein bisschen Zeit und Lust für ein Experiment hat, sollte sich darauf einlassen. Ein unwahrscheinlich starkes Gefühl überkommt dich hinterher. Erhebend. Du hast drei lange Stunden dort zugebracht und hast doch nicht gemerkt, wie sie vergingen. Lass dich darauf ein, denn auch dein Geschmackssinn verändert sich oder wird jedenfalls in Aktion gesetzt.Ein Buch, das man als Begleitmaßnahme oder Einstieg oder Persönlichkeitsschulung in die neue Welt des Schmeckens und bewußteren Essens nutzen kann, fällt mir dazu ein: Es ist von Jürgen Dollase, die "Kulinarische Intelligenz", die als Einstiegsdroge bei mir bestellt werden kann.
Wie können wir den Blick für unser tägliches Essen schärfen, weil es ja schließlich um uns selbst geht. "Hinschmecken" ist die Vokabel. Wie wir im Dunkel-Restaurant saßen und versuchten, die Einzelheiten auf unseren Tellern in den aufeinanderfolgenden Menügängen zu erkennen (im Dunklen), so sollten wir im Hellenbewußt hinsehen, was wir einkaufen. Es ist ganz einfach – wenn wir unsere Einstellung zum Essen ändern, dass wir bewußter hinschmecken, Qualität suchen und dem eine ganz andere Aufmerksamkeit geben, so wird sich auch unser kulinarisches Verhalten ändern. Die Diskussion um gutes Essen wird mit den schlechten Nachrichten der Tagesschau übermantelt. Ein Lebensmittelskandal folgt dem nächsten und alle Untersuchungen zeigen, dass Essen etwas Feindliches, Gefahrbringendes ist und das man sich zwischen allen Entwederoders durchlaviert und sich für das kleinere Übel entscheidet. "Angst ist kein guter Lehrmeister und die Verteufelung der Nahrungsmittel ist kontrapunktischer Unsinn."…"Es gibt nur einen Weg, das ist das Wecken von Begeisterung und das Sensibilisieren sinnlicher Wahrnehmung."
Einen Schritt vorwärts hat der gemacht, der sinnlich seine Speisen aussucht und mit Genuss verspeist, da er ein sensibilisierter Verbraucher geworden ist und seiner Opferrolle den Rücken kehrt. Der Besuch im Dunkel-Restaurant und die Lektüre dieses Buches ergänzen sich wunderbar. Wie alle unsere Sinne zu pflegen und zu entwickeln sind, ist auch unser Geschmack zu schulen. Für Augen, Ohren, Nase und Gefühle gibt es Ärzte. Für den guten Geschmack sind wir selbst der Doktor und das zu nutzende Instrument der Behandlung ist die "Kulinarische Intelligenz". Learning by doing.Wie ich im Dunklen saß und der Salat kam, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich ja das Überraschungsmenü gewählt hatte. Doppelte Überraschung! Vorsichtig auf dem Teller stochernd, den man ja nur hört und automatisch nimmt man die Finger der anderen Hand hinzu, um irgendetwas festzupieken und zum Mund zu führen. Es war ein süßlichschmeckendes Salatblatt. Später kam noch etwas Weiches, beinahe Warmes dazu. Ich glaubte, geräucherte Gänsebrustscheiben zu erkennen und die bereits erwähnten Erbsen waren gekeimte Bohnen. Nach dieser Vorübung, tastend nach einem Glas, Wein wäre der richtige Geschmacksverstärker gewesen, erwischte ich aber nur das Glas Wasser. Egal, denn das Süppchen kam. Beim Erkennen lag ich völlig falsch. Ich dachte, es wäre Ochsenschwanzsuppe. Es hatte eine tolle Würze. Ich löffelte und nahm schließlich die Suppentasse und schlürfte sie aus und konnte nicht erkennen, was es war. Als Jürgen abräumen kam, sagte er: „Es wird jetzt heiß, pass schön auf. Ich stelle den Teller mit dem Hauptgang hin." Ich roch es sofort. Rotkraut. Und wo Rotkraut ist, sind auch Klöße. Aber was dazu? Ich versuchte mit meiner Gabel Klöße aufzuspießen. Sie waren nicht so heiß, aber bereits einmal durchgeschnitten und in geriebenen Nüssen gewälzt. Dazu versuchte ich Rotkraut zu erwischen. Es war sehr milde abgeschmeckt. Wahrscheinlich Apfelrotkraut. Lecker bisher. Das Fleisch wurde von mir in Angriff genommen. Rinderbraten konnte es sein. Ich fragte meine Begleiterin: „Willst du mal kosten?" „Ja. Gerne, aber wie machen wir das?" „Pass auf, ich piek jetzt was auf und schiebe die Gabel an der Tischkante entlang. In deine Richtung. Du hältst dort deine Hand hin." Es klappte ganz gut. Nach einem Moment sagte sie aber: „Der Rinderbraten ist aber bestimmt Entenbraten. Schmeckt aber trotzdem." Wir verabredeten, dass ich etwas von ihrem überkrusteten Lammbraten abbekommen sollte, der sehr schön zart war und gar nicht den typischen Lammgeschmack hatte.

Der letzte Gang war genauso überraschend. Ich fühlte einen kleinen Teller. Wie gut, dass ich irgendwo gelesen hatte, wie man Besteck um den Essplatz drapiert (gehört das auch zur kulinarischen Intelligenz oder war das einfach nur Knigge?). Der kleine Löffel war auf der Kopfseite des Tellers und Jürgen hatte ihn beim Eindecken auch tatsächlich dort hingelegt. Ich spürte einen warmen Duft von meinem Teller aufsteigen und versuchte, etwas zu erwischen. Kirschen, warme Kirschen schob ich in meinen Mund und danach kam etwas Kaltes, Festes. Jürgen klärte uns auf: „ Geeister Kaiserschmarren mit heißen Kirschen auf einem Schokoladenspiegel." Zum Glück konnte keiner sehen, wie ich den Teller ableckte.

2 Meinungen

  1. Aufruf zur großen Berlin-Umfrage: Was würdet Ihr einem Ami über Berlin erzählen? Liebe Berlin-Blog-Leser: Ende des Monats fahre ich (www.ethansen.de) nach Amerika und nehme dort an einer Podiumsdiskussion über „das neue Berlin“ teil. Kein Problem: Ich wohne seit zehn Jahren im immer neuen, immer alten Berlin. Doch da fiel mir auf: Hoppla, es gibt viele Berlins und ich kenn nur eine. Einerseits würden die Amerikaner das gar nicht merken, andererseits frage ich mich, ob es Aspekte vom „neuen, jungen“ Berlin gibt, die man doch erwähnen sollte, die ich gar nicht kenne. Meine Frage an Euch, falls Ihr ein paar Minuten Zeit habt, darüber nachzudenken: Was würdet Ihr einem jungen amerikanischen Publikum über Berlin heute erzählen wollen? Nix historisches, nix mit Checkpoint Charlie und Reichstag… ich suche Geheimtipps, persönliche Anekdoten, Do’s und Don’ts, Go’s und No-Go’s. Ich freue mich auf jede Antwort. (Meine E-Mail: eric(at)ethansen.de). Ich poste sie auch im Blog und berichte auch später über die Reise und über die Reaktion in Amerika auf Eure Antworten. Euer, ETH

  2. michael kowarsch

    wie war es denn in amerika?erzähl doch mal was drüber.Mit freundlichen Grüßen ins neue JahrMichael Kowarsch

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