Neil Young mit Crazy Horse ‚Americana‘: Amerika im Spiegel der Geschichte

Ein wenig vermessen ist es schon, ein Album nach einem Genre zu benennen, das Neil Young mehr oder weniger verkörpert. Aber weniger Arroganz als die Wurzeln seiner musikalischen Herkunft kann man daraus lesen, denn wenn er mit „oh Susanna“ so gewaltig loslegt, als sei er gerade 20 Jahre, voller Träume und voller Energie, der Welt entgegen zu treten, dann werden hier vermeintlich bekannte Weisen nach ihrer eigentlichen Intention interpretiert und energetisch aufgearbeitet.

„Americana“: Die Wurzeln Amerikas

„Americana“ nimmt sich einer musikalischen Geschichte an, die seit Jahrzehnten und vielleicht sogar Jahrhunderten in Kinderzimmern ertönen und gibt ihnen häufig durch Youngs eigener Dringlichkeit eine Rückbesinnung zu den Ursprüngen, die durch Hunger, Kriminalität und generell gefährdete Existenzen eingefärbt wurden.

Hört man sich düstere Songs a la „Clementine“, „Tom Dula“ oder „Gallows Pole“ an, so fällt es geradezu schwer, sie sich in Kindergärten vorzustellen, denn die morbiden Balladen über ertrunkene Töchter, Gänge zum Galgen und Mörderballaden inmitten von Liebesliedern und der Sehnsucht nach Freiheit sind kaum Themen, die man zum Schlafengehen singen möchte.

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Neil Young sieht die Gegenwart durch den Spiegel der Geschichte

Ähnlich wie auch Anais Mitchells kürzlich erschienenes Meisterwerk „Young Man in America“ dient diese Rückbesinnung auch einer kritischen Reflexion des gegenwärtigen Amerikas. Existenzängste, Arbeitslosigkeit (geradezu jovial mit „Get a job“ repräsentiert), Kriminalität, Freiheit und Unschuld finden sich im Schmelztiegel USA zusammen und stellen die Frage auf, ob sich wirklich etwas geändert hat, seit die Siedler die amerikanischen Einwohner verdrängt haben, um sich ihr eigenes Utopia aufzubauen.

Durch Youngs individueller, vom Arrangement jedoch an die Originale angelehnter Interpretation gewinnen die Klassiker wieder an Kontext und offenbaren die Bedrängungen und Ängste, die kathartisch durch Musik aufgearbeitet wurden. Mit einem sporadischen Backgroundchor („Travel On“, „Jesus' Chariot“) gelingt der Band Crazy Horse zusammen mit Neil auch eine teils spirituelle Stimmung, die an Wanderkirchen und die religiöse Komponente eines harten Lebens erinnert, auch hier einen Bogen zum neuen Amerika zieht, wo Religion immer noch alles richten soll und gleichzeitig unheilsschwanger über den Köpfen hängt.

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Interessanterweise ist es „God save the queen“, der das Album beschließt, eine merkwürdige Wahl, dem Booklet nach jedoch eine Erinnerung an den Bürgerkrieg und die Befreiung vom Commonwealth. Ob dieser letzte Kommentar nun kritisch auf das Freiheitskonzept des heutigen Amerikas reflektiert oder nicht, dürfte jedem selbst überlassen sein, wobei Young schon sehr bitter klingt, wenn er die titelgebende Zeile singt.

Neil Young bleibt sich treu

Wer mit Neil Young nichts anfangen kann, der wird auch mit „Americana“ nicht weinend in die Arme des Wandermusikers fallen, allerdings ist sowohl die familiäre, beinahe raue und chaotische Produktion und die offensichtliche Freude am Spielen zusammen mit der gut überlegten Songauswahl eine erfrischende Abwechslung zu Coveralben, die wenig Aussage über gegenseitige Schulterklopfer hinaus haben.
Und wagt man sich in die poröse Gegenwart Amerikas, um das Album und die ikonischen Songs in diesem Kontext zu hören, so kann man mehr als nur ein gutes Folkalbum erleben, sondern eine komplexe Reflexion auf eine Gesellschaft, deren Ängste und Hoffnungen kaum einen Schritt nach vorne gemacht, sondern sich nur prismenartig in alle Lebensbereiche zersplittert haben.

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