Mit ?eigenen“ Augen: Unterschiede sehen

Es kommt bei einer guten Schilderung oder Beschreibung auf etwas anderes an – darauf, die eigene Wirklichkeit hinter den Dingen zu sehen. Dann finden wir Interesse. Als Beispiel nehme ich einfach eine andere Berliner Parade, die Mai-Parade vor der DDR-Parteiführung im Jahr 1989, dem Jahr, als alles zu Ende ging. Beschrieben hat diesen Aufmarsch Günter Schabowski in seinem Buch „Der Absturz", damals Politbüro-Mitglied und SED-Parteichef in Berlin, der einzige «Schreiber» unter all diesen hochrangigen Politikern des sozialistischen Stillstandes, und – in meinen Augen – deshalb auch der einzige, dem es später gelang, sich „ehrlich" zu machen. Was wiederum damit zusammenhängen mag, dass dieser Mann beobachten und formulieren kann. Dabei war er an diesem Tag persönlich gar nicht auf der Tribüne anwesend, als eine verhinderte Rampensau lag er krank daheim und sah alles aus der „Fernsehperspektive".

Zunächst macht Schabowski auf die Regie dieser Veranstaltungen aufmerksam. Wie ein Kinobesucher, der nur auf die Kamerafahrten schaut, sieht er das Wirken der Kulissenschieber von der Defa, die das Produkt „Volksnähe" medial erzeugen: «Die Ikonographen aus Adlershof setzten alles geübt ins Bild. Dem leeren Gestus der Massenhuldigung versagten sich die Kameraleute weitgehend. Sie zeigten nur ab und an eine Totale mit wehenden Fahnen und Transparenten über dem Heerwurm. Es überwog der Blick in die Gesichter … Immer wieder dazwischengeschnitten die Mitte der holzgezimmerten Empore: ein lachender, strahlender Honecker. Er war der beste Mann dort oben, unstreitig die Starbesetzung in diesem merkwürdigen Streifen mit Hunderttausenden Kleindarstellern und null Handlung". Volk und Führer werden durch dieses mediale Pattex zur Einheit „gepatcht".

Daraus entwickelt Schabowski dann einen Ansatz zum Verständnis des notwendigen Untergangs der DDR. Dieser Staat verwechselte zunehmend seine eigenen Aufführungen mit der Wirklichkeit selbst, er fiel auf sich selbst herein: «Honecker empfand und verstand Massenveranstaltungen wie den „Kampfmai" als die eigentliche Wirklichkeit. … War die Maidemonstration nicht ein überzeugendes Barometer für die elementare Übereinstimmung mit seiner, Honeckers Politik?».

Im Gegenschnitt kontrastiert der Autor die „Objekte" der Staatsmacht mit dieser Illusion. Für das Volk, für die Teilnehmer der Parade, war das „Abtrampeln vor Honi" nur ein Anlass, endlich mal nach Berlin zu kommen, mit Ideologie hatte das wenig bis nichts zu tun. Und die Wirkung auf die Massen war marginal: «Die Berichterstattung wurde über Stunden ausgedehnt. Dabei rissen nicht die Fernsehkabel, wohl aber der Geduldsfaden der meisten Zuschauer und Radiohörer". Lange gelaufen – dumm gelaufen.

Man vergleiche Schabowskis «kritische» Art des Berichtens, die aus ungewohnten Perspektiven und „mit Intelligenz" das Ereignis beleuchtet, mit der konventionellen Reportage eines armen Moderators, der das Ewiggleiche über Stunden chronologisch zu kommentieren hatte: „Vor der Tribüne tauchen jetzt die Mitglieder der Betriebskampfgruppe der LPG Finsterwalde auf. Fröhliche junge Menschen, die stolz ihre Fahnen schwenken und unverbrüchlich die Treue zu den Idealen des Sozialismus beschwören. …». Man sieht daran, nur der schlechte Stil kann lügen, nur er taugt fürs Privatfernsehen – und andererseits kann auch aus einem Aufmarsch von „Kleindarstellern mit null Handlung" so etwas wie eine Geschichte des Untergangs der DDR erwachsen. Wenn man es nämlich kann, wenn man die richtige Position einnimmt, und wenn man – wie Schabowski – seinen eigenen Kopf in die Geschichte hineinschreibt. Denn er ist es letztlich, der die notwendigen Unterschiede erzeugt …       

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