Gewissensfragen

Bis zu seinem nächsten, DEM Termin am Flughafen ist noch Zeit und so beschließt er, zum Strand hinab zu klettern und an der Wasserlinie einen ausgedehnten Spaziergang zu machen. Ein laues Lüftchen umspielt seine Beine. Es ist ein perfekter Tag voller Vorfreude gewesen und wie es aussieht, kann ihm den keiner mehr versauen. Morgen wird er mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Mädchen einen Ausflug an die Nordküste unternehmen. Er freut sich schon darauf, seiner Familie die Insel zu zeigen, die er bereits so lange kennt. Er freut sich auf den Ausdruck kindlichen Staunens im Gesicht seiner Vierjährigen und die Begeisterungsrufe ihrer sechsjährigen Schwester. Der Gedanke befriedigt und schmerzt ihn zugleich.

Endlich werden sie wieder alle zusammen sein. Wie lange ist es her, seit sie zuletzt Zeit für einander hatten? Wie lange ist er jetzt schon beruflich auf dieser zwar schönen, aber mangels Bekannter und Verwandter doch sehr einsamen Insel? Seit beinahe sechs Monaten arbeitet er mit den europäischen Partnern unter höchster Geheimhaltungsstufe an einer Software, die eine neue Ära der Überwachungstechnologie einleiten wird. Bundestrojaner? Ha, ein Lachnummer. Ethische Bedenken beschleichen ihn, wie so oft. Er beschließt, sich gedanklich auf die Ankunft seiner Familie zu konzentrieren. Schließlich ist es nun einmal sein Job, Software zu entwickeln, nicht etwa zu beurteilen, ob diese Software überhaupt entwickelt werden sollte.

Möwen kreisen hoch am Himmel und stoßen ihre charakteristischen Schreie aus. Die Wellen streicheln den Strand. In den letzten Tagen hat die Luft gestanden, das Meer sich zu einer Art Badewanne entwickelt. Ideal für meine Kleinen, grinst er bei der Vorstellung, wie seine Kinder vergnügt das Meer durchpflügen und seine Frau und er entspannt von der Liege aus zuschauen können, ohne sich um Strömungen und Wellengang Sorgen machen zu müssen.

Mittlerweile müsste die Maschine bereits in der Luft sein. Er rechnet die Zeit bis zur geschätzten Ankunftszeit aus und beschließt, so langsam zurück zum Auto zu gehen und die einstündige Fahrt zum Flughafen zu beginnen. Dort gibt es ein hervorragendes Restaurant mit Blick auf die Einflugschneise. Er würde seiner Familie bei deren Landung zuwinken.

So eine Klimaanlage ist ein wahrer Segen, denkt er, als er in den aufgeheizten Wagen steigt. Er gibt Gas, eine Staubwolke steigt hinter ihm auf und weht auf’s Meer hinaus. Aus dem Radio dringen aufgeregte Stimmen. Es ist sehr leise eingestellt und so werden die Stimmen von den Reifengeräuschen auf dem losen Geröll und dem Rauschen der Klimaanlage übertönt.

Nach einer Weile hat sich das Fahrzeug nahezu auf Kühlschrankniveau abgekühlt. Er schaltet die Klimaanlage ab. Himmlische Ruhe, denkt er. Hätte ich doch eine Klimaautomatik gekauft. Die wäre zwar ein bisschen teurer gewesen, aber hätte mir nicht nur die Wahl zwischen Ein oder Aus gelassen. Er mag es generell nicht, wenn er vor klare Alternativen gestellt wird. Seine Frau pflegt ihn damit aufzuziehen. Arbeitest den ganzen Tag mit Null und Eins, kannst Dich aber nicht zu einem klaren Ja oder Nein durchringen. Du bist mir vielleicht ein Informatiker!

Es dauert eine ganze Weile, bis er endlich bewusst Geräusche wahrnimmt. Ärgerlich wegen dieser Störung seiner Gedankenwelt greift er Richtung Radio, um es abzuschalten, als er "übergesetzlicher Notstand" und "Jung übernimmt die Verantwortung" hört. Meine Güte, denkt er, sind die immer noch nicht durch mit diesem Thema? Ist doch klar, dass man Flugzeuge abschießen muss, wenn man dadurch einen Terroranschlag verhindern kann.

Er will gerade endgültig auf Power Off drücken, als eine offensichtlich aufgeregte Nachrichtensprecherin etwas von "Katastrophe", "200 Toten" und "Flughafen Düsseldorf" durch den Äther schickt. Ihm wird kalt, als er reflexgesteuert die Lautstärke hochdreht. Er fährt rechts ran und lauscht wie betäubt der Sondersendung seines Lieblingsradiosenders.

"Am heutigen Abend kam es zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik zu einem Militäreinsatz gegen ein ziviles Zielobjekt. Kurz nach dem Start des Condorfluges DE 3894 nach Palma übernahm eine Gruppe Terroristen das Kommando und befahl den Piloten, Kurs auf Berlin zu nehmen. Die untereinander arabisch sprechenden Männer wollten mit dem Airbus A 320 offenbar das aufgrund einer Sondersitzung voll besetzte Reichstagsgebäude angreifen. Nachdem sämtliche Kontaktaufnahmeversuche zwischen den Sicherheitsbehörden und den Entführern gescheitert waren, verfügte Verteidigungsminister Jung den Abschuss des Flugzeuges zum Schutz der Berliner Zivilbevölkerung. Er berief sich dabei auf den übergesetzlichen Notstand und übernahm persönlich die volle Verantwortung für den Abschussbefehl. Kurz darauf stiegen mehrere Abfangjäger der Bundeswehr auf. Nur etwas weniger als eine halbe Stunde nach ihrem Start wurde Flug Condor DE 3894 in der Nähe der Stadt Eisleben abgeschossen. Alle 180 Passagiere der vollbesetzten Maschine kamen dabei ums Leben. Aktuellen Schätzungen zufolge wurden zusätzlich am Boden mindestens zwei Dutzend Menschen von Trümmerteilen erschlagen, sowie etliche Gebäude zerstört."

Es war ihm bereits klar gewesen, als er die Kälte im Nacken gespürt hatte. Er würde seine Familie nie wiedersehen. Sie hatten den Flug DE 3894 genommen. Seine Vierjährige hatte ihm die Buchstaben und Zahlen gestern abend telefonisch und voller Stolz darüber, dass sie sich schon sowas kompliziertes merken kann, auf einen Zettel diktiert. Er hatte sie überschwänglich gelobt, beide spürten in diesem Moment das innige Gefühl der Liebe zueinander, welches nur Eltern ihren Kindern und Kindern ihren Eltern gegenüber erlebbar ist. Es ist vorbei. Du wirst sie nie wiedersehen. Der Schock der Erkenntnis macht ihn bewegungsunfähig und zwingt ihn so, der Radiosprecherin weiter zuzuhören.

"Mittlerweile steht fest, dass die Entführer tatsächlich nicht vor hatten, das Flugzeug auf das Reichstagsgebäude zu lenken. In E-Mails, die dem Sender Al-Jazeera unmittelbar nach dem Abschuss zugespielt wurden, kündigten die Entführer an, man wolle den Feind mit den eigenen Waffen schlagen. Der Feind solle die Menschen selber töten, in der Annahme, damit andere schützen zu können. Keiner der Entführer wäre auch nur in der Lage gewesen, ein Passagierflugzeug zu fliegen. Verteidigungsminister Jung erklärte nach Bekanntwerden dieser Informationen seinen sofortigen Rücktritt und wurde zwischenzeitlich in Untersuchungshaft genommen. Der deutsche Bundestag unterbrach seine Sondersitzung und will zur Stunde darüber beraten, wie man künftig der terroristischen Bedrohung in Deutschland begegnen will. Bundeskanzlerin Merkel sprach den Opferfamilien ihr tiefes Mitgefühl aus und versprach unbürokratische Hilfe."

Den letzten Satz hört er nicht mehr. Der Arzt stellt einige Stunden später Tod durch Herzversagen fest. Er habe wahrscheinlich die Hitze nicht vertragen. Sowas passiert jeden Tag…

Schreiben Sie Ihre Meinung

Ihre Email-Adresse wird Mehrere Felder wurden markiert *

*