Um herauszufinden, warum Fußball so einzigartig faszinierend ist, könnte man Meinungen einholen – von Medienvertretern, Aktiven und Fans. Jedoch könnte die Lösung auch ganz einfach über mathematisch-statistische Wege zu erlangen sein. Tatsächlich lassen sich über derartige Methoden klare Hinweise dafür finden, dass Fußball deshalb so spannend ist, weil es häufig ungerecht zu geht. Diese überraschende Erkenntnis gilt auch heute noch – lange nachdem man den Münzwurf zur Ermittlung eines Siegers bei Unentschieden abgeschafft hat. Denn im Fußballsport fallen auffallend wenig Tore, wodurch die Chance auf einen Außenseitersieg viel höher ist als zum Beispiel im Handball oder Eishockey. Die Idee zu den folgenden Ausführungen stammt aus Metin Tolans „Manchmal gewinnt der Bessere – die Physik des Fußballspiels“. Diese sind allerdings mit aktuelleren Zahlen untermauert.
Fußball ist ungerecht: Ein Ergebnis der Leistungsdichte
Fußballfans stöhnen ernüchtert auf, wenn einmal mehr der FC Bayern München Deutscher Meister geworden ist. Umgekehrt müsste man aber eigentlich fragen: Warum werden die Bayern eigentlich so „selten“ Deutscher Meister? Trotz überragender wirtschaftlicher Stärke und einer entsprechenden Weltklassemannschaft findet sich der Rekordtitelträger nur etwa jedes zweite Mal auf dem Platz an der Sonne. Die übrigen Titel trugen in der jüngsten Vergangenheit ganz unterschiedliche Teams heim: Werder Bremen, der VfB Stuttgart, zuletzt Borussia Dortmund. Aber selbst ein unscheinbarer Emporkömmling wie der VfL Wolfsburg schaffte es dank guter Einkaufspolitik, Spielwitz und Taktik über eine gesamte Saison den Bayern den Schneid abzukaufen und kurzzeitig Deutschlands beste Mannschaft zu sein. Darüber hinaus tauchen in jedem Jahr völlig verschiedene Teams im oberen Tabellendrittel auf. So durften in den letzten zehn Jahren auch mal der VFL Bochum, der 1. FC Nürnberg, der FSV Mainz 05 und aktuell Hannover 96 international mitmischen.
Betrachten wir im Vergleich dazu die Handball-Bundesliga, stellen wir fest, dass es dort deutlich einseitiger zugeht. In den letzten fünf Spielzeiten haben mit Kiel, Hamburg und Flensburg gerade einmal drei Teams die ersten beiden Plätze unter sich ausgemacht. Dieselben drei Mannschaften belegten zu 90 Prozent die ersten beiden Plätze während der letzten zehn Spielzeiten. In der Fußball-Bundesliga sind in den vergangenen 5 Jahren dagegen nicht weniger als sieben Teams unter den ersten Zweien eingelaufen. Nur Bayern und Schalke gelang dies mehrfach – ein Beweis der größeren Abwechslung im Fußball. Und auch die Verteilung der Punkte sprechen eine klare Sprache. Berechnet man die Bundesligatabelle mithilfe der Zwei-Punkte-Regel wie sie auch im Handball verwendet wird (ein Sieg ergibt zwei, ein Unentschieden ein Punkt), so zeigen sich beim deutschen Fußball insgesamt engere Abstände als beim deutschen Handball. So gibt es in der Handballtabelle einen klaren Bruch zwischen den Topteams und dem Rest des Feldes. Ein enges Mittelfeld mit Chancen nach oben und unten wie im Fußball sucht man überdies vergebens. Zudem erscheint die Tabelle meist schon nach wenigen Tagen zementiert. Wer oben steht, bleibt meist oben und wer unten steht, hängt dort oft bis zum Ende fest. Eine wichtige Ursache dafür ist, dass im Handball die guten Mannschaften einfach sehr selten gegen schwache Teams verlieren. Sie geben nur untereinander Punkte ab. Im Fußball kann es schon mal vorkommen, dass der Tabellenletzte den Tabellenführer schlägt, so wie die Borussia aus Mnchengladbach in der letzten Spielzeit den späteren Meister Borussia Dortmund mit 1:0 bezwang. Im Handball ist so etwas beinahe undenkbar. Aus diesen Gründen hat der Handballmeister HSV Hamburg (62) auch eine deutlich höhere Punktzahl vorzuweisen als der Fußballmeister Dortmund (52) – obwohl dessen Vorsprung vor dem Zweiten Bayer Leverkusen trotzdem beachtlich war. Im Handball kann man sich keine schweren Ausrutscher erlauben. Der BVB wäre mit seiner Punktzahl in der Handballtabelle nur Fünfter geworden. Umgekehrt reichten aber beim Handball durch die geringere Leistungsdichte schon 19 Punkte, um nicht abzusteigen, was in der Bundesliga den letzten Platz noch hinter dem hoffnungslosen Schlusslicht St. Pauli (21) bedeutet hätte.
Auch bei internationalen Turnieren gibt es im Fußball eine größere Anzahl potentieller Titelkandidaten – und größere Überraschungen. Die Europameisterschaft 1992 endete mit dem unverhofften Sieg der aus dem Urlaub „einberufenen“ Dänen, die nur teilnehmen durften, weil Jugoslawien kurzfristig ausgeschlossen wurde. Und wer erinnert sich nicht an den sensationellen Triumph Griechenlands im Jahr 2004 unter Otto Rehhagel? Eine derartige Überraschung sucht man bei der Handball-EM seit ihrer Einführung 1994 vergeblich. Und um einmal eine andere Vergleichssportart zu wählen: Das im TV ebenfalls recht präsente Tennis ist vor allem bei den Männern ein echter Langweiler geworden. Die Herren Federer, Nadal und Djokovic machten in den vergangenen 5 Jahren nicht weniger als 75 Prozent der Finalteilnahmen unter sich aus. Und von den übrigen 25 Prozent konnte nur der Argentinier Del Potro überhaupt einen Titel gewinnen.
Wieviel Glück und Zufall steckt im Fußball?
Fußball wird also als spannender empfunden, weil die Leistungsdichte enger ist und zumindest auf Profiliganiveau jeder jeden schlagen kann. Die Aussage „Fußball ist ungerecht“ bekommt hier zusätzlichen Nährboden. Denn hier kommt tatsächlich auch der Faktor Glück ins Spiel. Metin Tolan hat in seinem oben genannten Buch festgestellt, dass Computersimulationen der Fußball-Bundesliga unter der Annahme von 18 gleichstarken Teams meist eine ähnliche Punkteverteilung ermitteln wie die Realität. Es wäre zwar blauäugig, daraus zu schließen, Fußball hätte nur mit Glück zu tun, denn tatsächlich finden sich in der Mehrzahl natürlich schon die stärker eingeschätzten Teams weit oben. Und doch muss man angesichts der viel engeren Entscheidungen über Wohl und Wehe eines Fußballvereins den Zufall einbeziehen, wenn man verstehen will, warum Bayern München nicht jedes Jahr Deutscher Meister wird. Das viel zitierte Bayern-Dusel hat an dieser Stelle ausgedient, denn würde es „gerecht“ zugehen, müsste die vermeintlich beste Mannschaft doch auch stets oben stehen, auch wenn das leider meistens der Verein mit dem meisten Geld sein dürfte.
In diesem Zusammenhang lautet die wichtigste Erkenntnis Tolans, dass die geringe Toranzahl eine bedeutende Rolle bei der Zufälligkeit des Fußballs spielt. Der Fußballsport ist so ausgelegt, dass normalerweise zwei, manchmal nur ein Treffer genügen, um seinen Gegner in die Knie zu zwingen. Im Handball besteht das Spiel zu einem Großteil aus Torszenen, während sich im Fußball viel im Mittelfeld abspielt. Diese scheinbare Langeweile können sich schwächere Teams zunutze machen, um das eigene Tor gut abzusichern und auf ein paar wenige Torchancen zu hoffen, die man zum unverhofften Sieg nutzen kann. Statistisch kann man unter einfachen Annahmen zeigen, dass ein Team, das halb so stark ist wie der Gegner immer noch eine über 30-prozentige Siegchance besitzt, wenn nur ein einziges Tor im Spiel fällt. Bei 3 Toren sind es immerhin noch etwa 25 Prozent, bei 5 Toren 20 Prozent. Erst wenn man über 10 Tore pro Spiel erzielt sinkt die Siegwahrscheinlichkeit eines um 50 Prozent schwächeren Teams unter 10 Prozent. Das kommt im Fußball aber so gut wie nie vor. Auf diese Weise lässt sich also erklären warum im Fußball an guten oder glücklichen Tagen immer wieder die Außenseiter einen großen Sieg erringen und damit die Liga spannend machen, während das im Handball so gut wie ausgeschlossen ist. Bleibt als Fazit: Fußball ist ungerecht – und das ist gut so!
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