Mark Twain, Ahnvater aller amerikanischen Hochliteratur, wurde mit dem Buch ‚Roughing It‘ berühmt (dt.: ‚Durch Dick und Dünn‘). In dem Text beschreibt er, wie er als angehender Redakteur zusammen mit seinem Bruder 1861 ins wilde Nevada reist, in jener Pionierzeit, bevor die ersten Eisenbahnen fuhren. Folgerichtig beginnt der Text mit einer tagelangen Kutschfahrt – und mit der Sichtung der ersten Kojoten.
Ein schlechter Autor würde an dieser Stelle entweder das Klischee bedienen: ‚Nicht weit vom Lagerfeuer heulten die Kojoten stundenlang den Mond an‚. Oder aber, er wäre zum ‚Realisten‘ geworden und hätte irgendeine Wikipedia seiner Zeit geplündert: „Der Kojote ist eine in Nordamerika verbreitete wilde Art der Hunde, die einem kleineren Wolf ähnelt. Er erreicht eine Gesamtlänge von 110 cm. Bis zur Schulter steht er 50 cm hoch. Sein Gewicht beträgt 9-22 kg, im Durchschnitt 14 kg". Das aber, das wäre dann gar keine Literatur mehr. Wir würden uns nicht mehr unterhalten fühlen, sondern wieder schulpflichtig. Jedenfalls würden wir dafür freiwillig kein Geld ausgeben. Kurzum: Faktenhuberei killt jeden Bestseller.
Ganz anders agiert deshalb Mark Twain: Er geht auch ins Detail, aber nicht in das der exakten Fakten, sondern in das der Sprachspiele. Wie wir auf dem wikimedia-Bild oben sehen, ist der Kojote ganz offensichtlich ein recht hübsches Tier, Mark Twain aber karikiert ihn als ‚Tramp der Prärie‘ und vermenschlicht ihn dadurch zugleich, indem er ihn als wahren Unglücksvogel der Natur durch den Kakao zieht: „Der Kojote ist ein langes, dürres, siech und jämmerlich aussehendes Knochengestell mit einem darübergespannten Wolfsfell, einer leidlich buschigen Rute, die ständig mit einem verzweifelten Ausdruck von Verlassenheit und Elend herunterhängt, verschlagenen und bösen Augen und einem länglichen, spitzen Gesicht mit leicht hochgezogenen Lippen und entblößten Zähnen. Alles an ihm hat etwas Schleichendes. Der Kojote ist ein lebendes, atmendes Sinnbild der Not. Er ist immer hungrig. Er ist stets und ständig arm, von Pech verfolgt und ohne Freunde. Die niedrigsten Lebewesen verachten ihn, und sogar die Flöhe würden viel lieber auf ein Veloziped überwechseln …". In diesem Stil geht es noch einige Seiten weiter.
Die Fülle aber und der Detailreichtum, die Twain aufbietet, die haben mit einer Naturbeschreibung wenig zu tun. ‚Armut‘, ‚Freunde haben‘ – das alles sind Kategorien, die im Tierreich wenig Sinn machen. Mit anderen Worten: Mark Twain schreibt offensichtlich nur seine eigenen Phantasien über den Charakter des Kojoten aus. Überspitzt formuliert: Gute Literatur hat viel mit treffenden Einzelheiten zu tun, aber wenig mit der Wirklichkeit. Jedes Faktum, zum Beispiel das ‚Wolfsfell‘ des Kojoten, wird dem Schreiber nur zum Anlass, daran ebenso wilde wie haltlose soziale Spekulationen zu knüpfen. Witzig aber ist diese ‚Personificatio‘, wie die Rhetorik das Verfahren nennt.
Das gilt auch für ein ‚Sportereignis‘, mit dem Twain das wettsüchtige Amerika kurz darauf beglückt. Hier lässt er einen Jagdhund gegen den Kojoten antreten: „Und die ganze Zeit liegt der Hund nur knappe zwanzig Fuß hinter dem Kojoten und kann um sein Seelenheil nicht begreifen, wieso er nicht näher herankommt, und langsam wird er fuchtig; und zu sehen wie leicht der Kojote dahingleitet und überhaupt nicht keucht oder in Schweiß gerät oder zu lächeln aufhört, macht ihn immer wütender; und zu sehen, wie schändlich er von einem Wildfremden hereingelegt wird und was für ein gemeiner Schwindel dieser lange, ruhige, leisetretende Trab ist, bringt ihn immer mehr in Rage; und dann merkt er, dass der Kojote tatsächlich ein bisschen langsamer werden muss, um ihm nicht ganz davonzurennen – und dann ist dieser Hund ernsthaft erbittert, und er legt sich ins Zeug und jault und flucht und stiebt den Sand noch höher und versucht mit konzentrierter und verzweifelter Anstrengung, den Kojoten zu erreichen". Unnötig zu erwähnen, dass es gleich ‚Wusch!‘ machen wird – und dann ist der Kojote hinter dem Horizont entschwunden.
Mir geht es um etwas anderes: Auch dieser unglaublich lebendige und detailreiche EINE Satz – große Kunst ist das! – der ist von vorn bis hinten erstunken und erlogen. Weder sind Hunde und Kojoten sonderlich große Feinde, im Gegenteil, sie paaren sich sogar untereinander und dann kommen die niedlichen ‚Coydogs‘ auf die Welt. Noch sind Hunde langsamer als Kojoten. Mark Twain hat sich motivisch einfach ein wenig im Sportbereich bedient und eine Wettkampfsituation zwischen Hund und Kojote erfunden. Ganz ähnlich wie beim Märchen vom ‚Hasen und Igel‘. Doch diese seine Erfindung steckt wiederum voller Details, die alle nicht erfunden sind: Der gelbbraune Staub der Wüste ist echt, der Präriesalbei, die Skelette usw. Da fällt es uns schon gar nicht mehr auf, dass Mark Twain aus seinem ‚Ursprungskojoten‘, dem armseligen Verlierer der Seiten zuvor, abrakadabra einen Siegertyp gemacht hat.
Kurzum: Ein guter Schreiber bedient sich der Details, um seinen Text zu schmücken, so wie der Töpfer zum Lehm greift. Und falls ihm doch mal ein Detail fehlen sollte, dann erfindet er sich eben eins dazu. Wir sind hier ja schließlich nicht bei den Journalistens und ihrem komischen ‚Objektivitätsideal‘ …
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