Stellen Sie sich ein kleines ostdeutsches Städtchen vier Jahre vor der Wende vor. Die Protagonistin ist eine 15-jährige Gymnasiastin, die jeden Nachmittag nach der Schule heraus aus der Stadt in ihr kleines Dorf fuhr. Auf dem Weg von der Alma Mater zum Bus kam sie an sage und schreibe 2 Buchläden vorbei. Wer die Ossenreyer Straße kennt, weiß, um welches Städtchen und auch, um welche Buchläden es sich handelte. In beiden Buchläden war sie Stammgast, wusste, an welchen Tagen die Lieferungen eintrafen und kannte jede Buchhändlerin mindestens vom Sehen. Ihr tägliches Erscheinen sicherte ihr einige Perlen der Welt- sowie der ostdeutschen Literatur. Doch, auch davon gab es welche: Gedichtbände von Eva Strittmatter, Romane von Jakob Hein, Brecht, Heiner Müller, die schönen Insel-Bände, die Poesie-Hefte … Meist warteten die Schätze eingeschlagen unter dem Ladentisch und wurden bei ihrem Erscheinen mit kurzem Blickaustausch an die Kasse gebracht. Oft konnte sie noch nicht einmal hineinschauen, um was es sich handelte, kaufte sozusagen auf Verdacht oder verließ sich auf den erlesenen, will sagen, staatsfeindlichen Geschmack der Verkäuferinnen. Sie kramte also ihr spärliches Gymnastinnen-Monatsgehalt* heraus und zahlte die sehr preiswerte Lektüre.
Noch im Bus packte sie die Bücherpakete aus, fing hier und da an zu lesen, freute sich auf das eine und sah das andere schon in den Tiefen ihres Bücherregals verschwinden. Das wies mittlerweile eine beträchtliche Fülle auf. Im Nachhinein schätzt die Buchsammlerin sie auf 6×2 Buchmeter. Schon damals stand sie manchmal vor ihrem geistigen Raumteiler und fragte sich, ob sie das alles jemals lesen werde? Dann dachte sie immer an ihre Mutter, ein Buchclub-65-Mitglied**, von der sie das Bücherhorten gelernt hatte. Die sagte immer, wenn man sie auf ihre vielen Buchmeter ansprach: „Das lese ich alles, wenn ich Rentnerin bin.“ Heute, 22 Jahre später, weiß das junge Mädchen von damals, dass alles so kam und doch ganz anders: die Bücher reichten nicht! Zum Glück, auch deswegen (!), kam die Wende! 80 000 Neuerscheinungen in einem Jahr und alle konnte man lesen …
Die Tochter machte sich, kaum dass sie volljährig war, auf den Weg in die neue Vor-Wende-Welt. Zurück blieb alles, quasi ein ganzes 18-jähriges Leben: Familie, Freunde, die ersten Liebesbriefe, Fotos, Bücher. Zu Anfang fehlte es ihr.
Wenige Jahre später hatte sie einen sehr belesenen Freund. Als sie ihn das erste Mal besuchte, erwartete sie englisches Mobiliar vor einer nach guten kubanischen Zigarren riechenden Bibliothek. Das braune Leder gab es, aber es gab kein einziges Buch, außer einer Formelsammlung der Mathematik. Der Grund? Er hasse es, dass Menschen, die ihn besuchen, als Erstes an sein Buchregal treten. Alles Kokolores! Ein Lektürebestand würde überhaupt nichts über das Ich des Besitzers sagen. (Sie musste an ihre kleine Sammlung von damals denken und wie sie zu ihr kam und gab ihm Recht.) Wenn er sich Bücher kaufe, dann lese er sie und verschenke sie sofort weiter. Es gäbe ohnehin nur drei, vier Bücher im Leben eines Menschen, die er mehrere Male lesen oder in die er immer wieder hineinschauen würde. Der Rest sei Angeberei und bloße Dekoration.
Vor zwei Wochen kaufte sie schließlich zwei neue Regale. Die Bücher ihres jetzigen Mannes mussten zu ihren ziehen. Viele davon steckten noch in der Folie. Einige gab es nun doppelt. Über zwei Jahre schliefen sie in Pappkartons und niemand vermisste sie. Ihr kam der Alte in den Sinn, vor einem Buchstand des modernen Antiquariats. Der sprach sie an, vor vielen Jahren, als sie mit einer besonders preiswerten Ausgabe von Nietzsches „Zarathustra" liebäugelte. „Kaufen Sie keine Bücher, die sie nicht lesen!“ Und sie sah ihren Mann vor sich, den sie nun kannte wie keine andere und seine Bücher und was die für ein Bild abgaben und was sie erzählten und unter Umständen ganz Falsches.
Gestern kam ein Freund der Beiden vorbei. Das erste Mal in die gemeinsame Wohnung. „Mann, habt ihr aber viele Bücher!“ „Ja, ja“, gab sie schmunzelnd zurück. „Das hat aber nichts zu bedeuten. Ist alles nur Dekoration.“
* Die Abiturienten bekamen in der DDR ca. 150 Mark im Monat. Die Unterstützung zahlte der Staat. Der offizielle Grund: den angehenden Akademikern sollte damit ermöglicht werden, sich das nötige Lernmaterial und Bücher für die allgemeine Erbauung zu kaufen. Heute, 2006 in der Bundesrepublik Deutschland, zahlt ein Gymnasiast Geld an die Schule, damit sie ihn mit Leihbüchern versorgt.
** Das ist das ostdeutsche Pendant zum hiesigen Bertelmann-Versandclub gewesen, allerdings mit einer etwas erleseneren Buchauswahl.
Das ist unser armes Deutschland. Alles nur leere Worte, von wegen die Bildung fördern.