Das Romangeschehen – die Entführung einer polnischen Linienmaschine durch zwei DDR-Bürger am 30.8.1978 – beruht auf einer wahren Begebenheit. Die Autorin nimmt eine Zeitungsmeldung zum Anlaß, das alltägliche Leben in der DDR um 1970 zu beschreiben. Die beiden zukünftigen Flugzeugentführer Katja Siems und Lutz Schaper werden von allen Seiten beleuchtet mittels einer raffinierten Technik, der man auch nach mehrmaligem Lesen nur schwer auf die Spur kommt. Am Anfang sagten also erstmal viele Leser des Goetheinstitut Boston Buchklubs, sie seien verwirrt gewesen. Was sollten all die Überschriften bedeuten: unten, ganz unten und oben?
Auf S. 13 versichert die Erzählerin: „Ich kann Ihnen da nichts erzählen. (…) Wenn überhaupt was für sie dabei herausspringen soll, müssen Sie mir folgen. Sie müssen schon rein in den Schacht." Der Erzähler spricht den Leser also wie einen Journalisten an, der der Geschichte auf die Spur kommen will. Die Erzählerstimme verspricht beim Eintauchen in die verschiedenen Ebenen des Schachtes mehrere Sichtweisen auf das Geschehen. Und darauf kann man sich dann einen eigenen Reim machen. Lesen als Puzzle, als Versteck- und Ratespiel. Das Geschehen spielt auf den folgenden Zeitebenen und Orten: Kindheit und Jugend in Ludwigsfelde und schließlich bis hin zur Reise nach Danzig, von wo aus sie in den Westen fliehen wollen. Der Fluchthelfer aus dem Westen taucht allerdings nicht wie verabredet auf dem Bahnhof auf.
Die Entführung endet auf dem Flughafen Tempelhof, wo Katja und Lutz in Verwahrung genommen werden. Von diesem Zeitpunkt an gibt es noch einen Handlungsstrang, der die Verhandlung darstellt und das brachte mich auf die Idee, dass das ganze Buch eine Hintergrundgeschichte für Staatsanwalt und Verteidigung widerspiegelt. Katjas Arbeit an den Maschinen, ihre Kollegen, die Freundin Verena – alles Teile in der Rede der Verteidigung um den Geschworenen ein Bild vom Leben im Osten zu vermitteln.
Es gibt in Tupolew 134 nichts, woran man sich festhalten kann, keine absolute Wahrheit. Die Tatsache, dass Katja an die Stasi verraten wird, wird von verschiedenen Seiten beleuchtet; zu keinem Zeitpunkt stellt der Erzähler fest, wer es getan haben könnte. Fast wie in einem Krimi. Verena könnte der Spitzel gewesen sein, oder Lutz hat kalte Füße bekommen oder keiner von Beiden. Die Stasi könnte ihr auch ohne einen Vertrauensbruch durch Katjas Freunde auf die Schliche gekommen sein. Das ist das Interessante an der Lektüre von Tupolew 134: am Ende stehen wir alle mit unterschiedlichen Antworten da. Warum auch nicht. Die Realität wird von jedem Menschen anders wahrgenommen. Und wir machen uns auf das Geschehen einen eigenen Reim, abhängig auch davon, wie sensibilisiert wir sind. Entscheidendes kommt in diesem Roman oft leise daher. Ein Beispiel dafür ist Katjas Satz: „Ich lebe nicht mehr gern so." (S. 40) der den Auslöser für ein Gespräch mit Lutz über Fluchtmöglichkeiten bildet.
Alles in allem eine spannende Lektüre. Tupolew 134 ist auch ein Buch, bei dem sich mehrmaliges Lesen lohnt.
Antje Ravic Strubel Tupolew 134
Erstveröffentlichung 2004
Zitate beziehen sich auf die Ausgabe des Deutschen Taschenbuch Verlags, 2006
€ 9.50
Bild des Buchcovers von amazon.de
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