„Es gibt eben Schüler mit stark verlangsamter Auffassungsgabe.
Wie soll sich denn eine Klasse fortentwickeln,
wenn stets auf einen solchen Schüler Rücksicht genommen werden muss?“ Recht hat
er, wird man auf den ersten Blick sagen.
Man ist es ja auch so gewohnt. Aber ist es wirklich so?
Tatsache ist, dass zumindest das neue Schulgesetz in
Nordrhein-Westfalen nicht das Sitzenbleiben abschafft. Vielmehr heißt es im dortigen
§ 50: „Die Schule hat ihren Unterricht so zu gestalten und die Schülerinnen und
Schüler so zu fördern, dass die Versetzung der Regelfall ist.“ Der Regelfall.
Ausnahmen ausdrücklich vorgesehen.
Bisher ist es allerdings so, dass jeder vierte Schüler in
Deutschland auf dem Weg zur zehnten Klasse einmal sitzenbleibt. Weitere zehn Prozent
werden schon bei der Einschulung um ein Jahr zurück gestuft. Insgesamt 35 %
kann man wohl beim besten Willen nicht als Ausnahme gelten lassen.
In Schweden, Finnland oder Japan gibt es das Sitzenbleiben
entweder gar nicht mehr oder nur unter besonderen Voraussetzungen. Und gerade
Finnland ist uns in Sachen PISA immer weit voraus. Ein Modell also? Ich meine
nein, denn dort wird eine sinnvolle Form der Ganztagsschule praktiziert, die
mit dem deutschen Modell der offenen Ganztagsschule nicht im Mindesten vergleichbar
ist.
Was die Bildungspolitiker in Deutschland hier wieder einmal
versuchen, ist die Pseudo-Einführung einer als richtig anerkannten Lösung, aber
unter Bedingungen, die den Einsatz ad absurdum führen.
Versetzung als Regelfall. Förderung der Schüler. Nehmen wir
als erstes mal die Förderung. Wie soll in einer Halbtagsschule oder einer
offenen Ganztagsschule, die am Nachmittag mit 400-Euro-Kräften ohne
pädagogische Qualifikation aufrecht erhalten wird, eine gezielte individuelle Förderung
stattfinden? Weitere Lehrkräfte einzustellen, wäre ein Weg. Nur wer soll den
bezahlen? Da könnte man auch gleich die richtige, also gebundene Ganztagsschule
mit Anwesenheitsverpflichtung und nachmittäglichem, verbindlichem Stundenplan
einführen.
Nehmen wir als nächstes die Versetzung als Regelfall. Die
Nichtversetzung ist leider heutzutage der einzige Moment, in dem an ihren
Kindern „hochinteressierte“ Eltern erfahren, dass da was nicht richtig ist. Man
schaue sich nur mal die Präsenzquoten der Eltern anlässlich von Elternabenden
und Elternsprechtagen an. Ganz zu schweigen von den Migranteneltern, denen eine
Teilnahme an den eben genannten Veranstaltungen nicht einmal etwas nützen würde, weil sie sprachlich schlicht nicht folgen könnten.
Wo liegt der Nachteil der Nicht-Versetzung? Ich bin
ebenfalls einmal sitzen geblieben und kann ihnen das nicht sagen. Auch viele
prominente Zeitgenossen haben ein Jahr wiederholen müssen. Der Jurist würde
sagen: Wo ist der Schaden? Kritiker wenden ein, der Schaden liege darin, dass der
Sitzenbleiber aus seinem Klassenverband gerissen werde, die Wiederholung
erfahrungsgemäß keine Leistungsverbesserung nach sich zöge und er überdies fortan
mit dem Stigma des Versagers versehen sei.
Meine Erfahrung ist, dass Sitzenbleiber ohnehin nicht
sonderlich im Klassenverband verankert sind, Leistungsverbesserungen auch auf
andere Weise nicht zu erreichen wären (außer mit elterlichem Druck) und das
Argument der Stigmatisierung schlicht
Blödsinn ist. Auf unserer Schule waren die, die aus höheren Klassen zurückkamen
immer die Coolen.
Ein sachliches Argument ist die Verlängerung der individuellen Ausbildungsdauer durch eine
Nicht-Versetzung. Nach dieser Argumentation verliert der Sitzenbleiber ein Jahr
seines Lebens auf dem Weg zur beruflichen Zukunft.
Nun kennen wir aber alle die Situation auf dem Arbeitsmarkt.
Akademiker gibt es im Überfluss. Ein Tierarzt erzählte mir gestern, dass derzeit
vierfach oberhalb des Bedarfes ausgebildet wird. Ausbildungsplätze gibt es Jahr
für Jahr weniger. Man könnte sogar sagen, dass es unter diesen Voraussetzungen
gut ist, wenn man das ein oder andere Jahr in der Warteschleife verbringt.
Schließlich kann es auf Sicht nur besser werden, oder?