Autismus ist eine frühkindliche und schwere Entwicklungsstörung, die sich in stark eingeschränkten Sozialkontakten, einer oft verzögerten Sprachentwicklung und in immer wiederkehrenden, stereotypen Verhaltensweisen zeigt. So die Definition. Was das in der Realität für die Eltern und Geschwister eines solchen Kindes bedeutet, kann man sich kaum vorstellen.
Die Verzweiflung einer ganzen Familie in Worte gefasst
Simons Geburt verlief ohne Komplikationen, auch die ersten drei Jahre seines Lebens entwickelte sich das KInd ganz prächtig. Bis es plötzlich keinen Blickkontakt mehr aufnahm, nicht mehr lachte, nicht mehr spielte. Und sich damit das Leben der ganzen Familie massiv veränderte. Was Simons Krankheit für seinen Bruder bedeutet, wie die Familie daran zerbrach und mit welchen widerstreitenden Gefühlen sich Tessa Korber als seine Mutter herumschlagen muss(te), das wird einem gänsehauttreibend bewusst, wenn man sich in das Abenteuer stürzt, diesen unglaublich emotionalen Erfahrungsbericht zu lesen. Ein Buch, dessen Titel nicht besser gewählt sein könnte. „Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können“ ist kein Satz aus dem Mund der Mutter, wie man zunächst glauben möchte. Simon selbst hat ihn in einem der Momente gesagt, in dem er zur Welt seiner Mum vordringen konnte.
Sie sind Sisyphus, nicht Jesus!
Was wirklich in einem Autisten vorgeht, wird man wohl in absehbarer Zeit nur erahnen können, aber seitdem die Störung immer mehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit rutscht, seitdem wird langsam aber sicher klar, wie gefangen diese Seelen in einem Körper sind, der nichts für sie richtig filtert und ihnen Eindrücke zumutet, die zu nach außen hin seltsamen Reaktionen führen. „Löwenmut, Glaube, Liebe, Einsatz – das werden Sie alles zur Genüge brauchen. Aber heilen werden Sie Ihr Kind damit nicht. Sie sind Sisyphus, nicht Jesus.“
Es gibt viele Berichte von Betroffenen, aber es gibt wenige, die so gut sind wie dieser Erfahrungsbericht. Der entscheidende Unterschied liegt im handwerklichen Können der Autorin. Dieses Buch liest sich flüssig, packend und fast schon wie ein Thriller. Und über allem steht die Frage nach dem Warum. Die sich nicht nur Tessa Korber stellt, sondern auch ihr autistischer Sohn.
Zwei unterschiedliche Krankheiten mit ähnlichem Ausmaß
Manuela Kuffner ist keine Autorin von Beruf. „Nur“ Kauffrau, war sie mal, irgendwann, bevor Aljoscha am Landau-Kleffner-Syndrom erkrankte. Einer Krankheit unter der weltweit nicht einmal 150 Menschen leiden. Wenn auch nicht ganz so eloquent wie Tessa Korber, so gelingt es doch auch ihr, den Leser in den Bann zu ziehen. Ihr Sohn Aljoscha, den alle nur Mogli nennen, verlor erst im vierten Lebensjahr seinen Bezug zu der Realität, die unsere Wirklichkeit ausmacht. Verlor seine Sprache und die Fähigkeit, die Sprache der anderen zu verarbeiten. Die Krankheit, eine schwere Form der Epilepsie, hat fatale Auswirkungen. Mogli, ein Junge hübsch wie gemalt, kennt keine Angst, keine Scham, keinen Schmerz im herkömmlichen Sinne – was in logischer Konsequenz dazu führt, dass die Familie sozial völlig vereinsamt. Vielleicht wird sich bald alles ändern, denn Aljoscha nähert sich der Pubertät und in der verschwindet manchmal auch die seltsame Krankheit wie von selbst, inklusive aller Erinnerungen daran. Beim Kind, nicht bei seinem Umfeld.
Zwei packende Erfahrungsberichte
Jeder Erfahrungsbericht für sich geht unter die Haut. Gerade als Mutter ist es schwer, ein solches Buch zu lesen und nicht dann wegzulegen, wenn wieder die Tränen des Mitgefühls kommen. Wenn man seine eigenen, gesunden Kindern betrachtet und Gott, dem Universum oder wem auch immer dafür dankt, dass es so ist wie es ist. Und Frauen wie Tessa Korber und Manuela Kuffner aus vollem Herzen für ihre Kraft und Stärke bewundert.
Tessa Korber: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können, erschienen gebunden bei Ullstein im September 2012, erhältlich zu einem Preis von 19,99 Euro.
Manuela Kuffner: Mogli – der Kampf um mein wunderbares Kind, erschienen als TB bei Knaur, August 2012, Preis: 9,99 Euro.
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