Weil ich ein Fußgänger bin: angstvolle Geständnisse

In Berlin muss ich mein unabhängiges, freies und vor allem glückliches Leben als Fußgänger aufgeben. Denn Ampeln in Berlin hassen Fußgänger. Auch Autos und Fahrradfahrer hassen Fußgänger, ja selbst Fußgänger hassen andere Fußgänger.

Man hat es schwer, denn selbst wenn man Grün hat, nehmen einen die anderen Verkehrsteilnehmer nicht für voll. Der Fußgänger ist der Nerd des Straßenverkehrs, der von Auto- und Radfahrern geschubst und angepöbelt wird, dass ihm die (metaphorische) Brille hinunter fällt. Und wenn man dann einmal tief Luft holt, um empört über die Motorhaube zu schnauben, die sich gerade tief in die Kniescheibe bohrt, dann fühlt man sich auch noch alt und spießig, weil man so stur an die Verkehrsregeln hält und total uncool seine Beine behalten will.

Ist man ganz mutig, so geht man in Berlin über eine Hauptstraße. In 4 von 5 Fällen bleibt man notgedrungen auf der Insel stehen, es sei denn man gehört zum anarchistischen Pack, das einfach bei Rot irre lachend hinüber sprintet. Alle Gesetzestreuen können es nur dann schaffen, wenn sie sekundengenau bei Grün los jagen, die Kinder, Haustiere und Einkaufstüten hinter sich lassen (jeder für sich!) und eine exakt gerade Linie von A nach B verfolgen. Daher sind die anderen Fußgänger auch so verhasst, denn mit dem selben Ziel drängeln und schubsen sie, ruinieren die gerade Linie und bevor man sich versieht, ist B in weite Ferne gerückt, denn man steckt auf der Verkehrsinsel fest.

Dort fühlt man sich wie bei der letzten Staffel von „Lost“, verwirrt, verraten, alles verliert an Sinn und manchmal wird man auch von Eisbären angegriffen. Auf der Insel sieht man sein eigenes Leben an sich vorüber ziehen, ja, meistens hat man sogar noch genug Zeit, das Leben von anderen Leuten vorüber ziehen zu sehen.

Moos und Steine setzen sich an den Extremitäten fest, alles verliert an Bedeutung und jeglicher Sinn entschwimmt dem Geist.

Manche Leute sollen auf der Insel verrückt geworden sein, andere sollen das Nirvana erkannt haben. Aber um die dort erlangten Erkenntnisse des Ewigen zu behalten, muss man auch dort bleiben, denn sobald die Ampel auf Grün springt, rauschen die Gedanken und die Hektik wieder durch den Kopf und verdrängen gewonnene Einsichten, so dass man nur wieder verwirrt nach B Ausschau hält und nach der einen, perfekten Linie.

So ist man gefangen im Teufelskreis, denn was soll man sonst tun? Autofahren in Berlin ist mindestens genauso enervierend und kostet auch noch mehr Geld, außerdem braucht man dazu normalerweise auch noch einen Führerschein und ein Auto oben drauf, wer hat das schon? Als Fahrradfahrer muss man erstmal die moralisch total verkommene Einstellung der anderen Radfahrer teilen, ansonsten überlebt man das Rennen auf den Hauptstraßen nicht und wird gnadenlos zerstampft und von Omis in fetzigen Rennradhelmen geschnitten. Und in der Bahn wird man ständig von Musikanten belästigt, die auch noch eine Strafanzeige schalten, wenn man ihre peruanischen Instrumente in einem Anflug von Frustration in Brand setzt.

Was bleibt dem Fußgänger also anderes, als sich seinem Schicksal zu ergeben und sich der Momente zu erfreuen, in denen Raum und Zeit zu einem kleinen grünen Fleck auf der Verkehrsinsel verschwimmen, auf der man Schicksale mit den anderen Wartenden teilt, auf der man für einen kurzen Augenblick alles Sein durchschaut, auf der man überlegt, warum das Jetpack eigentlich immer noch nicht erfunden wurde…

[youtube wEV58ztuihs]

Weiterführende Links:

http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,699080,00.html – Fußgänger: das Grauen der Straße?

2 Meinungen

  1. Trifft genau ins Schwarze!

    […] um empört über die Motorhaube zu schnauben, die sich gerade tief in die Kniescheibe bohrt, dann fühlt man sich auch noch alt und spießig, weil man so stur an die Verkehrsregeln hält und total uncool seine Beine behalten will. […] … habe mich selten so verstanden gefühlt 😉

    Viele Grüße,
    Marius

  2. Die Untersetzer sind immer eine coole Idee, die man schnell umsetzen kann. Man kann das zwischendurch machen, weil der Aufwand gering ist und man schnell fertig ist.

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