Verbirgt sich Gott hinter einer Anomalie?

Als der Thomas Samuel Kuhn 1962 sein Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen veröffentlichte, hat er das moderne Verständnis der Geschichte der Naturwissenschaft grundlegend verändert.

Kuhn behauptete, dass alle Wissenschaftler im Rahmen eines sogen. Paradigmas arbeiten. Ein Paradigma repräsentiert eine a priori vorgegebene kollektive Sichtweise der Wirklichkeit,  die genau angibt, was als Theorie annehmbar ist und was nicht. Sie bestimmt auf diese Weise Form und Inhalt der Wissenschaft. Eine wissenschaftliche Revolution bestünde darin, dass ein bestehendes Paradigma durch ein grundlegend andere Sichtweise der Wirklichkeit abgelöst würde – einen Vorgang, der als Paradigmenwechsel populär geworden ist. Wie Kuhn ausführte, käme es immer dann zu einem Paradigmenwechsel, wenn Wissenschaftler auf eine Anomalie stießen – also auf ein Phänomen, das im Rahmen des bestehenden Paradigmas nicht erklärbar ist.

Als klassisches Beispiel erwähnt er u.a. die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit – ein Phänomen, dass im Rahmen der Newtonschen Mechanik nicht erklärbar war. Als der Physiker Albert Einstein 1905 seine Spezielle Relativitätstheorie formulierte, vermochte er nicht nur diese Anomalie zu erklären, er löste hierdurch auch eine wissenschaftliche Revolution aus, weil er die Newtonschen Begriffe von Raum und Zeit über den Haufen warf und eine grundlegend andere raum-zeitliche Sichtweise etablierte.

Obwohl die moderne Physik in den letzten einhundert Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat, gibt es immer noch eine ganze Reihe von Anomalien.

Eine dieser Anomalien ist jene empirische Koinzidenz, die ich in dem letzten blog erwähnt habe – und die mit dem Foucaultschen Pendelversuch in enger Beziehung steht. Als 1993 in Tübingen zum ersten Mal eine internationale Konferenz zu diesem Thema abgehalten wurde, formulierten die beteiligten Wissenschaftler zwanzig verschiedene Erklärungsansätze. Einige hofften diese Anomalie – ganz imGeiste Machs – auf eine mechanische Interaktion von Massen zurückführen zu können. Andere hofften sie, durch eine bloße Reformulierung der Newtonschen Mechanik in einer modernen, relativistischen Sprache erklären zu können. Doch bis heute hat sich keine dieser multiplen Erklärungen physikalisch durchgesetzt. Die Physiker sind sich jedoch in einem Punkt einig: Sie sind davon überzeugt, dass es sich bei dieser empirischen Koinzidenz um etwas von grundlegender physikalischer Bedeutung handelt.

Aufgrund dieses Umstandes ist es naheliegend, in dieser empirischen Koinzidenz den wissenschaftshistorisch klassischen Fall einer Anomalie zu sehen, die sich offenbar einer Erklärung durch das bestehende naturwissenschaftliche Paradigma entzieht.

Liefert eine moderne Metaphysik eine überzeugende Erklärung?

Paul Davies ist einer der wenigen Physiker, der sich auch mit Fragen der Metaphysik auseinandersetzt. Er ist davon überzeugt, dass die Physik einen sicheren Weg zu Gott liefert als die Religion. Im deutschen Sprachraum ist er vor allem durch seine Bücher Gott und die moderne Physik und Der Plan Gottes bekannt geworden. In seinem Buch Die Urkraft setzt er sich u.a. auch mit jener empirischen Koinzidenz auseinander, die wir hier als Anomalie identifiziert haben – und was er dazu zu sagen hat, ist einigermaßen erstaunlich:

„Das Kleine mit dem Großen … zu verbinden, das übt eine starke Anziehungskraft aus, denn dann fühlen wir uns mit der Schöpfung vereint, was einem mystischen Ziel entspricht, das den meisten Religionen dieser Welt gemeinsam ist."

Mit genau diesen Worten kommentierte der Physiker Paul Davies diese Anomalie.  In Anbetracht der Tatsache, dass sie bereits ausdrücklich mit den Begriffen des Kleinen und des Großen in Beziehung gesetzt war, war es naheliegend, der Frage nachzugehen, ob sich die mit ihr bezeichnete empirische Koinzidenz nicht vielleicht auch im Sinne der der von Nikolaus von Kues formulierten Koinzidenz des Kleinsten und des Größten interpretieren ließ. Es zeigte sich, dass dies tatsächlich möglich war.

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