Die Erwartungen an Jogi Löw und das Deutsche Team bei dieser WM sind groß. Größer als vielleicht ihr Potential? Zwar hat Jogi in den letzten Jahren ein ansehnliches Team mit seinen Stärken im Ballbesitz geformt, doch rückt die große Titelhoffnung nach letzten Auftritten eher in die Ferne.
Nachdem das deutsche Team im Viertelfinale der Weltmeisterschaft 2006 Argentinien im eigenen Land mit 5:3 nach einem spannendem Elfmeter-Krimi besiegte, waren Bundestrainer Jürgen Klinsmann und Co-Trainer Jogi Löw auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit. Die Fans und die Presse liebten das Duo, dessen Taktik ein starkes Pressing und eine Überlegenheit im Ballbesitz ausmachte. Endlich traute sich jemand, die deutsche Nationalmannschaft vom ewigen Konterfußball wegzubewegen. Nach der WM übernahm Jogi Löw das Amt des Bundestrainers.
Doch die Sportwelt ist schnelllebig. Mittlerweile ist Trainer Jogi Löw mehr als umstritten. Fans und Medien streiten sich über seine Qualität. Mit zu seinem „schlechten Ruf“ beigetragen hat vor allem die 1:2 EM-Niederlage im Halbfinale gegen Italien 2012. Doch ist die deutsche Elf unter Löw bislang nicht erfolglos, sieht man von dem 4:4 gegen Schweden in der WM-Qualifikation einmal ab, hat die Löw-Elf doch eine hervorragende Qualifikation gespielt. Ist die Kritik also ungerechtfertigt?
Die falsche Neun und Erik Durm
Ein wichtiger Anker des deutschen Spiels ist das Flachpassspiel. Speziell das Aufbauspiel der Innenverteidiger soll gänzlich ohne den langen Ball auskommen. Der Ball also soll möglichst genau in den eigenen Reihen gehalten werden. Damit zwingt das deutsche Team jedem Gegner sein Spiel auf.
Gerade seit Löw immer häufiger mit der „falschen Neun“ (ein Spieler, der als einzige Spitze eingesetzt wird, sich aber immer wieder fallen lässt und somit das Mittelfeld und das Defensivspiel stärkt) experimentiert, brechen die Außenverteidiger nur noch sehr selten bis an die Grundlinie durch. Das beispielsweise gelang vor allem Abwehr-Youngstar Erik Durm sehr gut. Statt des langen Balls entschied er sich häufig für den Pass in den Halbraum oder aber für den Lauf ins vordere Spielfelddrittel. Genau wegen dieses Auftritts und Verhaltens hat sich unserer Meinung nach Trainer Jogi Löw für Erik Durm entschieden und nimmt ihn mit nach Brasilien.
Die starke rechte Seite
Im Angriffsspiel hat die Löw-Elf seit der EM 2012 eine Rechtslastigkeit. Ausgehen tut diese vom Spielmacher Philipp Lahm, der entweder als Rechtsverteidiger oder Sechser agiert. Hinzu kommt, dass Mesut Özil als offensiver Spielmacher gerne auf die rechte Seite ausweicht. Auch Deutschlands Rechtsaußen Thomas Müller beteiligt sich ebenso wie Sami Khedira auf der rechten Seite. Links hingegen wartet mit Lukas Podolski ein echter Torgarant, wenn der Ball in den Halbraum oder den Rücken der gegnerischen Abwehr gelangt.
Die hohe Flexibilität
Gerade in den letzten Partien hat Jogi sein Spielsystem immer wieder variiert. Alleine im letzten Testspiel gegen Armenien probierte er mehrere Formationen aus. So begann er beispielsweise mit einer Art 4-3-3 und endete mit einem 4-1-4-1 System. Auch das 4-2-3-1 hat in der Vergangenheit häufige Anwendung in Löws Aufstellung gefunden.
Und genau hier haben wir die größte Stärke der deutschen Elf. Es ist die Flexibilität, die das Spiel der Deutschen ausmacht, und die sie auch in dieser kommenden WM so stark machen kann. Auf nahezu jeden Gegner können sie sich individuell einstellen. Besonders flexibel scheint die Offensivreihe.
So hat Löw die Chance, bei einer eher stämmigen und weniger beweglichen gegnerischen Innenverteidigung Mario Götze als Spitze einzusetzen. Der Bayern-Star ist besonders beweglich, schnell und wendig und findet bei einer solchen Verteidigung immer den freien Raum.
Miroslav Klose hingegen ist die perfekte Spitze bei einem eher passiven Gegner. Hier gelingt das Durchkommen eher über Flanken von den Außenseiten. Als kopfballstarker Stürmer ist Klose hier die stärkste Variante für die Spitze.
Thomas Müller wiederum vereint beide Spielertypen. Zum einen sucht er die freien Räume und zum anderen ist seine Stärke das Antizipieren.
Ähnlich flexibel ist auch das Mittelfeld. Khedira, Schweinsteiger, Özil, Kroos und auch Kramer bringen unterschiedliche Stärken und Charakteristiken mit in das deutsche Spiel ein. Jede Kombination führt zu einem wieder neuen deutschen Spiel. Toni Kroos ist beispielsweise ähnlich wendig wie Mario Götze und sucht die Freiräume im Zentrum. Bastian Schweinsteiger gestaltet das Spiel eher aus der Tiefe, ist kampfstark, ballsicher und bleibt eher im Zentrum, während Sami Khedira das Spiel nach vorne sucht und gerne auf die Außenseiten ausweicht – ähnlich wie Mesut Özil. Christoph Kramer hingegen ist der Mann für ein eher defensives Spiel.
Löw also kann je nach Gegner seine Reihen individuell stellen. Ein großer Vorteil für das deutsche Team. Bis heute hat er unterschiedlichste Varianten ausprobiert, weshalb es uns unmöglich ist, schon jetzt die eine Löwsche Taktik zu benennen.
Schwächen des deutschen Spiels
Die linke Abwehrseite gestaltet sich als schwierig. Hier ist noch immer nicht sicher, ob Löw Benedikt Höwedes, Erik Durm oder sogar Philipp Lahm aufstellen möchte.
Ein weiteres Problem zeigte sich vor allem in den letzten Testspielen: die mangelnde Chancenauswertung. Großer Torchancen führten nicht zum so wichtigen Führungstreffer, und so kam es immer wieder zu Verunsicherungen im deutschen Spiel. Grund für die Probleme im zwingenden Offensivspiel sind die teilweise nicht funktionierenden Laufwege.
Hinzu kommt die teils mangelhafte Rückwärtsbewegung beim direkten Gegenpressing des Gegners. So ist das Deutsche Team zu konteranfällig, was gegen Gegner wie Portugal tödlich sein kann.
Fazit
Die hohe und einzigartige Flexibilität im Kader sowie im Löwschen System machen es jedem Gegner schwer, sich auf den Kontrahenten Deutschland einzustellen. Der deutschen Nationalmannschaft hingegen bereitet es einen großen Vorteil. So können sie in jedem Spiel auf eine neue Taktik setzen – sie alle hat Löw in der Vorbereitung getestet – mal mit mehr und mal mit weniger Erfolg.
Probleme hingegen kann das Team bekommen, wenn es weiterhin solche Schwächen im erfolgreichen Ballabschluss zeigt – die werden bei einer Weltmeisterschaft bitterlich bestraft.
Mit welcher Taktik Löw gegen Portugal spielt, können wir nicht voraussagen. Selbst die Spieler gaben in einem Interview an, bis jetzt selbst noch nicht genau Bescheid zu wissen, wer auf welcher Position am 16. Juni gegen Portugal spielen soll.
Unsere Prognose: Deutschland schafft es bis ins Halbfinale, wenn bis zum Auftakt die letzten noch fehlerhaften Mosaiksteine richtig zusammengesetzt werden. Mit einem Quäntchen Glück ist vielleicht auch der Titel drin, doch von diesem Tipp möchten wir uns vorerst noch entfernen…
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