Über Unsichtbarkeit oder: Warum Atomphysik und Metaphysik gar nicht so verschieden sind

Dem Selbstverständnis moderner Naturwissenschaftler zufolge ist es prinzipiell unmöglich, Metaphysik als Wissenschaft zu betreiben. Sie verweisen zur Begründung dieser Unmöglichkeit in der Regel auf den dunklen und bisweilen bizarren Sprachstil, dessen sich die Metaphysik in der Vergangenheit bedient hat. Selbst Philosophen schlossen sich diesem Urteil ein. So bezeichnete der Philosoph Otto Marquard die Metaphysik als Transzendentalbelletristik – als eine Sammlung phantasievoller »Erzählungen« über eine Wirklichkeit, die es in realiter womöglich gar nicht gibt. Die Metaphysik ist mittlerweile zum Schreckgespenst der modernen Naturwissenschaft worden. Sie ist Inbegriff eines archaischen, dunklen und bizarren Denkstils. Dieses Vorurteil hat unser Bild vom Universum wie auch von uns selbst nachhaltig geprägt. 

Doch so sehr Metaphysik klares, wissenschaftliches Denken zu bedrohen scheint, so wenig ist, wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt, diese Gefahr allein auf dieses Fach beschränkt. Tatsächlich ist jede Disziplin, dessen Forschungsgegenstand unserer Wahrnehmung entzogen ist, anfänglich dieser Gefahr ausgesetzt gewesen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Atomphysik.

Atome sind optisch unzugängliche Objekte. Wir können sie selbst mit dem stärksten optischen Mikroskop nicht wahrnehmen. Die Wellenlänge des sichtbaren Lichtes – also der Teil des elektromagnetischen Spektrums, den wir mit unseren Augen erfassen – ist viel zu groß, um die sehr kleinen Atome wahrnehmen zu können. Lichtwellen gehen über ein Atom ebenso unbeeinflusst  hinweg wie eine Ozeanwelle über einen Kieselstein.  Um ein Atom in der Größe eines Stecknadelkopfes optisch wahrnehmen zu können, wäre ein Vergrößerungsfaktor von 10.000.000 notwendig. Lichtmikroskope erreichen jedoch lediglich einen Vergrößerungs-faktor von 1000. Kurzum: Atome sind in optischer Hinsicht unsichtbar.

Trotz dieser Tatsache ist die Annahme, dass Atome existieren, beinahe ebenso alt wie die Annahme, dass es einen letzten transzendenten Grund der Wirklichkeit gibt. Sie geht auf den griechischen Philosophen Demokrit zurück, der bereits vor mehr als 2300 Jahren erklärte: „Es gibt nur Atome und leeren Raum; alles andere ist Meinung."

Und nicht nur das: Auch die frühe Atomtheorie zeichnete sich durch einen höchst dunklen Sprachstil aus. Noch im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert war die Welt der Atome und ihrer molekularen Verbindungen durch eine mehr als bizarre Nomenklatur  gekennzeichnet. So bezeichnete man Eisenoxid – also die Verbindung von Eisen und Sauerstoff – als Marsethiop und  Arsensulfid – also die Verbindung von Arsen und Schwefel –  als Orpiment. Angesichts des Wissenstandes, den wir mit der modernen Atomphysik erreicht haben, erscheinen derlei Begriffe wie Marsethiop und Orpiment als vollkommen sinnlose Bezeichnungen.

Ein unklarer, verworrener Sprachstil ist also keineswegs etwas, was nur für die Metaphysik gilt. Ein solcher Sprachstil kann in der Tat überall dort beobachtet werden, wo der Mensch es mit für ihn  unsichtbaren Objekten zu tun hat. Diese archaische Form der Nomenklatur ist ein charakteristisches Kennzeichen für die Anfänge einer jeden wissenschaftlichen Disziplin, die es mit unsichtbaren Objekten zu tun hat. Die Ahnung, dass es diese Objekte gibt, wie auch der Versuch, sie auf irgendeine Weise sprachlich beschreiben zu wollen, ist der erste, wenn auch sehr unvollkommene Schritt in Richtung einer modernen Wissenschaft. 

Angesichts dieser historisch fast trivial klingenden Feststellung, stellt sich zwangsläufig die Frage: Wie schafft es ein Erkenntniszweig, diesen archaischen Status hinter sich zu lassen und so auf Kurs in Richtung einer modernen wissenschaftlichen Disziplin zu kommen? Und warum ist der Metaphysik nicht einmal dieser zweite Schritt gelungen?

Nächste Woche: Am Anfang war das Wort oder: Über die Macht des Namengebens.  

  

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