Das Internet im Großen und Ganzen aber – sagen wir's, wie's ist – steckt voller «Mist»: 99,9 % der Botschaften interessieren niemanden, noch nicht einmal den Empfänger, bestenfalls den Absender. Das alte grundlegende Problem allen Schreibens bleibt auch im WWW erhalten: Man muss etwas zu sagen haben, damit man etwas schreiben kann – und es ist ein verdammt langer Weg vom Kopf auf den Bildschirm, und ein noch längerer von dort in den Kopf des Lesers.
Wir erleben ja mit dem Netz keineswegs die erste Welle einer Jedermann-Kommunikation: «Rubber Duck, Rubber Duck – hier spricht Rubber Duck …», nach der Durchgabe der nächsten Polizeikontrolle aber fiel schon den Kurzwellenamateuren nicht mehr viel ein. Schaue ich hier in Bremen den „offenen Kanal", dann muss ich schnellstens umschalten, weil das Dargebotene so grauslich ist, dass es MIR als bloßem Zuschauer peinlich wird. Und so geht es mir eben auch mit vielem im Netz.
Die strukturellen Analphabeten sind nicht das einzige Problem: Triebtäter, Durchgeknallte, Neonazis, Vertreter, Betrüger, Gummipuppenliebhaber und Trickdiebe treiben und schreiben im Netz ihr Unwesen, hinzu kommt ein rapide steigendes Aufkommen an Werbern, Marketing-Fuzzies und selbsternannten Web-2.0-Gurus, welche zwar die Grammatik halbwegs meistern, inhaltlich aber eher Uninteressantes feilbieten, das sie wie die Koberer auf der Reeperbahn an den Mann bringen müssen: ich spreche längst von «Business-Trollen». Kurzum: das Netz ist auch von «Alphabeten» kontaminiert. Und jeder von denen glaubt, ausgerechnet er stünde im Zentrum des Geschehens, nur weil das Netz kein Zentrum hat.
Seltsamerweise sortiert sich das Netz dann wieder von selbst – und wiederum nach Schreibkriterien: Die höchsten Klickraten erzielen jene Blogs, die von Menschen betrieben werden, die „erzählen" können: das Bildblog ist eine einzige Comedyshow mit Deutschlands größtem Magazin für angewandten Qualitätsjournalismus als unfreiwilligem Hauptdarsteller, Spreeblick lebt von der sprühenden Erzähltechnik und den Berlinismen eines Johnny Häusler und eines Toni Mahoni, bei Basic Thinking pflügt ein überaus sprachbegabter Mensch als Trüffelschwein durch die weite Web-2.0-Welt, im Lawblog steckt ein Rechtsanwalt voller Anekdoten und Döntjes aus dem irren Alltag vor den Schranken des Gerichts, Ehrensenf ist die Internet-Alternative zur Tagesschau und in der Blogbar fliegen nach jedem gekonnten Verriss die Fetzen wie das Konfetti auf der Steuben-Parade.
Fazit also: Grammatik und Orthographie sind schön und gut. Und wer sie beherrscht, soll froh sein. Wichtiger aber ist eine andere Fähigkeit: Kann ich eine Geschichte so aufbauen, dass sie interessant ist, dass sie Witz versprüht, dass sie bildhaft ist, dass sie den Leser bei der Stange hält und auf eine möglichst unwiderstehliche Pointe zuläuft? Mit anderen Worten: Kann ich erzählen? Das entscheidet mehr als alle Kommunikation und auch Information darüber, ob ich im Sinne des Web 2.0 „schreiben kann", dass also meine Gäste zu mir zurückkehren. Anders ausgedrückt: Im Netz entscheiden «literarische Qualitäten», auch wenn das für manchen Faktenhansel und Informationsapostel zunächst ungewohnt und komisch klingt …
„Kann ich eine Geschichte so aufbauen, dass sie interessant ist, dass sie Witz versprüht, dass sie bildhaft ist, dass sie den Leser bei der Stange hält und auf eine möglichst unwiderstehliche Pointe zuläuft?“In dem Fall wohl nicht! Obwohl: Das ist ein Schriftsteller. Steht da wenigstens. Die Seite habe ich durch Zufall im Netz gefunden. Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es zum Lachen.Viele GrüßeMike Seeger
Ja, von den Wildecker Herzbuben über die Venus von Kilo bis hin zum rettenden Wasser im Geschirrspülbecken – das ist schon ein weiter Weg, dem nicht jeder Leser so willig folgt wie unsereins – wir leidgeprüften professionellen Buchstabenfresser.Aber – kein falsches Mitleid: Schriftsteller ist weder in der einen noch in der anderen Hinsicht ein geschützter Beruf …;-)
Gut gebrüllt, Herr Kollega. Nur eins hab ich auszusetzen: «Kann eigentlich jeder schreiben?» ist nur halb richtig. «Darf eigentlich jeder schreiben?» wärs gewesen.;-)
Wer möchte denn irgend jemandem das Schreiben verbieten? Es darf jeder schreiben! Die wirkliche Frage ist: Sollte jeder schreiben? Selektieren kann der mündige Leser. Ob der Vielfalt des Geschriebenen ist das aber leider ein Knochenjob. Oder was meinen Sie, Sysiphus?
Nun ja – mit dem Lesen ist’s wie mit der Autobahn: Geht’s in die falsche Richtung, nimmt man die nächste Ausfahrt. Kein Knochenjob also, sondern Zeitverlust.Die große Frage: Wem dreht man diesen literarischen Ladenhüter dann an?