Im Kapitel über die Waffen-SS in seinem neuen Buch erzählt Günter Grass von der Agonie des Krieges.
Dies ist keine Rezension des neuen Grass. Die WELT fühlt sich an die vom Steidl-Verlag verhängte Sperrfrist für die Buchbesprechung gebunden. Dennoch sollen die Leser wissen, worüber im Moment diskutiert wird. Günter Grass, der am Wochenende bekannt hat, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, spricht über diesen Punkt auch in seinem Memoirenband "Beim Häuten der Zwiebel", der am 2. September in die Buchhandlungen gelangen soll. Die Passage ist eingebettet in das Kapitel "Wie ich das Fürchten lernte", in dem er auf 60 Seiten seinen Kriegseinsatz abhandelt. Die Überschrift gibt den Tenor vor: Grass erzählt hier, wie ein ahnungsloser, blindgläubiger Jungnazi, der es zunächst als Ehre empfindet, zur "Eliteeinheit" Waffen-SS eingezogen zu werden, eines Besseren belehrt wird.
Was mit der Schilderung der Grundausbildung beginnt ("Wir wurden von früh bis spät geschliffen und sollten ,zur Sau gemacht werden'") vollendet sich in der Darstellung der Kriegswirklichkeit mit ihrem vielfachen Tod und Leid: Durch das Erleben von Angst, so der Subtext des gesamten Kapitels, werden dem tumben Toren endlich die Augen geöffnet. Am Ende geht er nicht nur halbwegs heil aus dem großen Morden hervor (tatsächlich ist der Krieg für den Autor am 20. April durch eine Verletzung, die ihm von russischen Granatsplittern zugefügt wird, zu Ende: Noch am Abend wird er nach Meißen ins Lazarett transportiert), sondern auch belehrt über den Untergang Deutschlands, das seinen Krieg längst verloren hat.
Um es gleich zu sagen: das Kapitel gehört nicht zu den stärksten dieser Memoiren, die an vielen Stellen Grass auf der Höhe sprachlicher Verdichtung und erzählerischer Kraft zeigen. Es scheint ihm selbst beim Schreiben bewusst gewesen zu sein, denn mehrmals meldet er sich mit Stoßseufzern zu Wort: "Ach, hätte diese Geschichte doch eine Pointe, für die es lohnte, den Langweiler Wahrheit zu opfern". Oder: "Ach, wie leicht sind mir zu Beginn der sechziger Jahre die Wörter von der Hand gegangen, als ich bedenkenlos genug war, die Fakten Lügen zu strafen". Das bezieht sich auf seinen Roman "Hundejahre", der ebenfalls seine Kriegserfahrung spiegelt, den Leser jedoch über die Zugehörigkeit zur Panzerdivision "Jörg von Frundsberg" im Unklaren lässt, bei der Grass das Kampfgeschehen erlebt hat.
Was der Autor mit dem Verzicht auf Pointen bezweckt, ist klar: Das soll Authentizität verbürgen, soll das Ausgeliefertsein des einfachen Soldaten an eine unübersichtliche und alles andere als heroische Kriegswirklichkeit veranschaulichen – eine Sichtweise, die seit Stendhals Schilderung der Schlacht bei Waterloo, in die der Held Julien Sorel in "Rot und Schwarz" gerät und nur Pulverdampf wahrnimmt, ein literarischer Topos ist.
Die "Pointenlosigkeit" ist auch glaubhaft: die paar Feindberührungen, die Grass zwischen seiner Vereidigung Ende Februar und Verletzung am 20. April 1945 erlebt, müssen, gerade weil sie meist hinter den russischen Linien, also vollkommen ungeordnet und zudem überraschend geschehen, einen Bildersturz ohnegleichen in dem verängstigten 17-Jährigen ausgelöst haben, der nun seine ganze Kraft ans Überleben setzt, was dann auch, wie durch ein Wunder, gelingt.
"Manchmal half nur noch das aus Schläue mit dem Zufall gezeugte Kind namens Glück", lautet die schöne Formulierung, die er für sein Davonkommen findet. Zum Beispiel verdankte er es seiner Unfähigkeit, Fahrrad zu fahren, dass er den gewagten Ausbruch aus einem Haus in dem bereits russisch besetzten Dorf der Niederlausitz, wo sich das alles abspielt, nicht mitmacht. Stattdessen gibt er, mit einem Maschinengewehr zurückbleibend, "Feuerschutz", als die Kameraden sich auf die im Haus gefundenen Drahtesel schwingen. Der gesamte Haufen von sechs, sieben Mann plus Feldwebel gerät bei dem Manöver unter russisches Feuer. Einziger Überlebender: Grass: "Ohne das leichte Maschinengewehr verließ ich das Haus des Fahrradhändlers und verdrückte mich durch den hinteren Garten und das knarrende Pförtchen".
Erzählerische Funken schlagen kann Grass aus diesen chaotischen Rückzugsgefechten allerdings an zwei Stellen doch: Eine hübsche Schweij- kiade bietet die Passage von der Rache an seinen schurigelnden Ausbildern, denen er den Morgenkaffee regelmäßig mit temperaturauthentischem Urin, Marke Eigenbau, versetzt. Und eine bewegende Huldigung vor seinem erzählerischen Vorbild Grimmelshausen stellt jene Waldszene dar, in der er als soldatischer Simplex, von der Truppe entfernt, durch Absingen von Kinderliedern ausmachen will, ob der sich durch Geräusche ankündigende Mensch, den er im Dunklen nicht sehen kann, Freund oder Feind ist: Er singt solange "Hänschen klein ging allein", bis es ihm rauh, aber unendlich erleichternd "In die weite Welt hinein" entgegenschallt. Über solchen grandiosen Verdichtungen vergisst man die Sache mit der Waffen-SS nur zu gern.
Artikel erschienen am Di, 15. August 2006, © WELT.de 1995 – 2006
Man kann der Grass-Debatte zurzeit nicht entgehen, so überflüssig sie auch ist. Es geht nämlich nicht um die deutsche Schuld und Schande, die, solange es noch Zeitzeugen – Opfer wie Täter – gibt, zur politisch korrekten Selbstgeißelung einlädt. Nein, es geht um Charakter. Den hat man oder man fordert ihn moralinsauer von anderen ein. Grass ´Altersbeichte kommt zu spät und langweilt, ebenso wie seine über Jahrzehnte gepflegte Schwarz-Weiß-Sicht auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen.
Das einzig Bemerkenswerte, aber auch erleichternd Tragische ist die Erkenntnis, dass sich nun auch bei Grass die „Moralische Attitüde“ als Heuchelei und Bigotterie entpuppt. Henryk M. Broder bemerkte treffend: Das Denkmal ist zerstört, aber der Sockel bleibt.
Da war dieser Mann aus Danzig,der dacht‘ 60 Jahre: „Ich kann’s nicht!Kann nicht mit der Wahrheit grassieren,sonst würd‘ mir der Ruhm nicht passieren.“Nun wird er im Sommerloch ranzig.