Geschichte oder Geschichten?

Da in Frankreich gerade Wahl ist, nehmen wir einfach mal die französische Revolution. Am 14. Juli ist alljährlich in ganz Frankreich Party – und zwar deswegen:

Das edle Volk stürmte also 1789 die schwer bewaffnete Feste der Tyrannei, befreite die politischen Gefangenen und gab den Anstoß zur Demokratie. So ungefähr haben wir's alle ja gelernt.

Aber so gut wie nichts stimmt davon: Als die Bastille gestürmt wurde, war sie schon lange kein Kerker für politische Häftlinge mehr. Am 14. Juli befanden sich in den morschen Mauern, die zum Abbruch vorgesehen waren, ganze sieben Gefangene: vier Fälscher, zwei Irre und ein Kinderschänder. Auch wurde die Festung nicht gestürmt, sondern von dem Kommandanten Launey der Bürgerwehr übergeben. Die Schüsse, die fielen, waren Schüsse AUF die Bastille.

Der Kommandant und weitere Besatzungsmitglieder wurden von einem entmenschten Mob übrigens trotz der Zusage freien Geleits gleich vor den Toren der Bastille hingemetzelt. Ein Küchenjunge enthauptete den Leichnam Launeys dann mit einem Küchenmesser, das Haupt wurde auf einer Pike im Triumph durch die Straßen getragen. Tschaja, machen wir uns keine Illusionen, so ist das edle Volk nun mal …

Ach ja – und dann wären da ja noch die Bastille-Toten und die ‚Folterwerkzeuge', die der grausame Absolutismus zu seinem Vergnügen an den edlen Bürgern ausprobiert haben soll: Diese Skelette aber, das waren protestantische Verblichene, die nicht auf katholischen Friedhöfen beerdigt werden durften, die ‚Folterwerkzeuge' bestanden aus einer total gefährlichen Ritterrüstung und aus einer Druckerpresse.

Und die Gefangenen? Naja, die vier von der Fälscherbande tauchten sofort unter, die Irren waren in Freiheit auch für eine Republik untragbar – sie kamen in die Psychiatrie. Und der Kinderschänder sattelte um und wurde zu einem der enragiertesten Kneipenredner gegen den 'Despotismus'. Und folgerichtig, weil die Bastille in Wirklichkeit nie erstürmt wurde, erhielten 863 Citoyens eine Ehrenrente und den Titel „Erstürmer der Bastille".

Das alles hätten Forscher sicherlich erst kürzlich herausgefunden? Quatsch – seit Hunderten von Jahren ist kaum etwas so gut erforscht wie die französische Revolution! Das alles ist schon seit 1790 bekannt, als die Revolutionsregierung höchstselbst die Vorgänge erstmals untersuchte. Die wirkliche Geschichte passt aber schlecht zu einem heroischen Beginnen wie der Einführung der Demokratie in Europa. Dazu mussten Helden her. Also schuf die Grande Nation sich ihre Winnetous, die sie am 14. Juli feiern darf. Wie alle anderen guten Demokraten auch …

Wohlgemerkt: Ich will mit diesem Text keineswegs die europäische Demokratie desavouieren. Ob aber Oktoberrevolution, Großer Marsch oder Reichsgründung – gerade am Anfang historischer Großereignisse stehen meist aufgeblasene Mythen und Geschichten, selten aber eine faktentreue Geschichtsschreibung. Denn die ist meist wenig geeignet, nationale Glaubenssysteme zu konstituieren. Brauchbare Fakten müssen nämlich erst nachträglich erfunden werden.

Eine Meinung

  1. Propaganda, Quatsch: PR, war halt schon immer ein wichtiger Teil der Geschichtsschreibung. Der ägyptische „Sieg“ gegen die Hethiter bei Kadesch war bei Licht betrachtet ja auch höchstens ein glückliches wenn auch torreiches Unentschieden.

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