Die äußere Landschaft: Reiseschilderungen

In kaum einem Genre wird so viel «gekitscht» wie in den Reiseberichten. Da «ducken» sich die Klöster unter den «steilen» Felsmassiven, jedes Dorf «schmiegt» sich ins «stille» Tal, jede Quelle sprudelt «munter», jede Burg ist «sagenumwoben», jeder dieser dürftigen Sätze ist voll abgedroschener Klischees. 

Noch schlimmer sind jene Wörter, die gar nichts mehr besagen: Wie soll eine «romantische Landschaft» denn bitte schön aussehen? Tragen die Häuser dort Fachwerk, sind die Bäume Koniferen oder haben sie Laub an den Ästen, ist es eher eine hügelige Kulturlandschaft oder ein sturmzerfetztes Moor, wo nächtens Macbeth' Geist durch die Torfstapel irrt? Ähnlich große Anschaulichkeit haben Wörter wie «idyllisch», «reizvoll» oder «erlebnisreich». Kurzum: Je mehr die Leute zu erleben meinen, desto einfallsloser schreiben sie oft – jede «wilde» Felsküste ist dann «zerklüftet», an jeden Strand «brandet» das Meer. Und auf dem nächtlichen Broadway «tost das Leben». Wie originell!

Das Problem liegt in diesem Verkünden von Selbstverständlichkeiten – man will nicht anderes, sondern das auch erlebt haben, was andere dort angeblich zuvor erlebt hatten: Die Nachricht von einem «weißen» Strand vorm Hotel besitzt keinen Nährwert. Nur wenn er aus schwarzem Sand bestünde, wäre es unter stilistischem Gesichtspunkt der Erwähnung wert. Doch Piefkes von nebenan, die hatten bei ihrem Türkeiurlaub doch auch einen weißen Strand, von dem sie ständig erzählten, also hat man den auch zu haben. Es geht um Selbstbestätigung, nie um die armen Adressaten der Texte: Von denen will doch niemand wissen, dass auf dem Meer «hohe Wellen» zu sehen waren, oder dass «weiße Wolken» den Himmel schmückten. Niemand muss reisen, um zu wissen, dass der Himmel überall blau ist, sagt Goethe. Jeder Reisebericht erzähle also von Unterschieden, vom Unerwarteten, von dem, was man vorher noch nie erlebt hat. Denn das Unerwartete wartet überall auf uns, schließlich sind dieser bestimmte Ort und jenes einzigartige Individuum noch nie zuvor aufeinander getroffen. So «wird jedes Kuhdorf das, was es noch nie war».

Dazu gehört allerdings ein offenes Auge. Wer nur mit dem Magen wahrnehmen kann, dass ihm nämlich die vertraute Currywurstbude aus dem heimischen Castrop-Rauxel am Urlaubsort fehlt, der sollte gar nicht reisen. Der betreibt nur Geldvernichtung. Denn Sehen und Wahrnehmen will gelernt sein. Hier einige Beispiele von Leuten, die wirklich hingucken und nicht nur ihre Erwartungen befriedigen wollten: 

Leselust aus enttäuschter Erwartung: «Mit der berühmten Filmkulisse, mit dem musealen Naturschutzpark, den man den Touristen zeigt, einschließlich Ziehbrunnen, Zigeunermusik und Reitturnier, hat die Welt der Puszta nichts zu tun» (Hans Magnus Enzensberger: Ach, Europa).

Der Punkt, auf den man es bringt, sei merkenswert: «Alle Mafias haben zwei Eigenschaften: a) ihre Mitglieder arbeiten nicht, führen aber ein sorgloses Leben; b) sie müssen ständig irgendwelche Rechnungen begleichen» (Ryszard Kapuscinski: Imperium). 

Gerade das Hässliche wird niemals weggeblendet: «Hier stehen die Kranken an der Wand und entkleiden sich langsam – viele steigen mit dem Hemd herein, manche die Schwerkranken, werden nackt ausgezogen. Ununterbrochen schallt das Beten von draußen herein, wie ein dumpfer Marschchor, scharf, rechthaberisch, laut» (Kurt Tucholsky: Ein Pyrenäenbuch, Kapitel: Lourdes).

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