Der Transzendentalkatalog oder: Wie man Gott wieder das Wort verleiht

Obwohl der letzte Grund der Wirklichkeit transzendenter Natur ist – und als solches immer unseren Blicken entzogen sein wird, war es einigen wenigen Menschen möglich, sich nicht nur der Gegenwart dieses Grundes bewusst zu werden, sie haben auch ihre Erfahrungen im Umgang mit diesem Grund an andere weitergegeben – ein Erfahrungsschatz, der bis heute – in Gestalt der großen Weltreligionen – lebendig geblieben ist.

Angesichts des Umstandes, dass es für die Existenz dieses letzten Grundes innerhalb der sichtbaren Welt nicht den allergeringsten empirischen Hinweis gibt, ist dies ein bemerkenswerter Umstand. Tatsächlich gibt es keinen Gegenstandsbereich, der nachhaltiger und prägender auf die Entwicklung der Menschheit eingewirkt hat als dieser – und das, obwohl es für ihn bis heute keinerlei solide Erkenntnisgrundlage gibt. Das einzige, über das wir verfügen, ist eine lose und unorganisierte Sammlung von Erkenntnissen, die wir als die philosophia perennis – als die Ewige Philosophie bezeichnen.

Ein wesentlicher Bestandteil dieser Ewigen Philosophie ist die Existenz einer »inoffiziellen«, nirgendwo institutionell niedergelegten Nomenklatur. Diese Nomenklatur umfasst eine Handvoll von Eigenschaften, die diesem Gegenstandsbereich durch mehr als drei Jahrtausende hindurch immer wieder zugeschrieben wurden. Zu ihnen gehören als immer wiederkehrende Eigenschaften: Allmächtigkeit, Allgütigkeit, Allwissenheit, Allgegenwärtigkeit, Unsichtbarkeit, Einheit, Einfachheit, Absolutheit etc.

All diese Eigenschaften haben nicht nur in den verschiedenen metaphysischen Systemen der Vergangenheit eine zentrale theoriebildende Rolle gespielt, sie wurden auch zu jeweils spezifischen »Gottesbildern« synthetisiert.

So gehören zu den gleichsam klassischen Eigenschaften des von der natürlichen Theologie vertretenen Gottesbildes alle hier aufgelisteten All-Bestimmungen, wie z.B. Allmächtigkeit, Allgütigkeit und Allgegenwärtigkeit. Sie geben nach modernem theologischen Verständnis Antwort auf die Frage: Quid Deus sit? – Was ist Gott?

Bislang haben wir jedoch keinerlei objektiviertes Wissen darüber, ob diese Eigenschaften wirklich dem letzten Grund der Wirklichkeit zukommen oder nicht. Wir haben lediglich ein paar historisch überlieferte Berichte von Menschen, die allem Anschein nach Zugang zu diesem ultimativen Bereich der Wirklichkeit hatten.

Gleichwohl haben sich Philosophen mit dieser inoffiziellen Nomenklatur auseinandergesetzt – und sie u.a. auf ihre innere Konsistenz hin überprüft. Diese Überprüfung hat gezeigt, dass einige Eigenschaften, wenn man sie ein- und demselben Grund zuordnet, miteinander unvereinbar sind. Ein klassisches Beispiel ist die Annahme, dass Gott allmächtig und allgütig zugleich ist. Dieses Eigenschaftspaket, das gerade für das christliche Gottesbild kennzeichnend ist, hat sich als unvereinbar erwiesen. Es ist als das Problem der Theodizee in die Geschichte menschlichen Denkens eingegangen; ein Problem, das nach Einschätzung zeitgenössischer Philosophen gerade durch die „extreme Radikalität des Bösen", die im 20. Jahrhundert Wirklichkeit geworden ist, zu einer erheblichen Verschärfung dieses Problems geführt habe. Der Holocaust wie auch Hiroshima hätten, wie sie erklären, das Bild eines allmächtigen und allgütigen Gottes nahezu unmöglich gemacht. (Baumgartner, Hans Michael/ Waldenfels, Hans (Hrsg.); Die philosophische Gottesfrage am Ende des 20. Jahrhunderts, München 1999, S.84)

Unabhängig von diesen Schrecknissen der Moderne hat bereits der griechische Philosophen Epikur (341-270 v. Chr) dem Theodizeeproblem eine theologisch so klare und durchsichtige Form gegeben, dass die Inkonsistenz von Allmacht und Allgüte in ein- und demselben Grund sichtbar wird:

Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht:
dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft,
oder er kann es und will es nicht:
dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist,
oder er will es nicht und kann es nicht:
dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott,
oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt:
Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?

Dieses als widerspruchsvoll empfundene Gottesbild hat innerhalb der modernen industrialisierten und aufgeklärten Gesellschaften bei sehr vielen Menschen dazu geführt, daß sie das Vertrauen in die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes insgesamt verloren haben.

Dieser Vertrauensverlust ist innerhalb unserer säkularen Gesellschaften naturgemäß nur dann überwindbar, wenn man bei der Auswahl, ob und welche Eigenschaften Gott zukommen, objektive resp. objektivierbare Kriterien zur Anwendung bringt – also anhand der greifbaren Realität zeigt, ob und welche Eigenschaften dem letzten Grund der tatsächlich zukommen und welche möglicherweise nicht.

Da wir gegenwärtig noch über keine moderne Metaphysik verfügen, können wir uns bei der Auswahl, welche Eigenschaften dem letzten Grund der Wirklichkeit explizit zuzuordnen sind, noch auf keinerlei wissenschaftlich erhärtete – also bereits objektivierte Erkenntnisse stützen. Gleichwohl schränkt die Ausrichtung einer modernen Metaphysik auf das physikalische Universum die in Frage kommenden Eigenschaften zwangsläufig auf eine ganz spezielle Klasse von Eigenschaften ein, und zwar auf all jene, die man aufgrund ihres a-personalen Charakters als dem Grunde nach objektivierbar bezeichnen könnte. Zu dieser speziellen Eigenschaftsklasse gehören Eigenschaften wie die der Allgegenwärtigkeit, Absolutheit, Einheit und Unfassbarkeit. Diese Auswahl ist keineswegs erschöpfend. Ihr liegt lediglich die taktische Einschätzung zugrunde, daß sich mit diesem speziellen Set an Eigenschaften am ehesten eine moderne wissenschaftliche Metaphysik entwickeln lässt.

All diese Eigenschaften zeichnen sich durch eine hohe erkenntnistheoretische Affinität zum physikalischen Universums aus. Sie erscheinen daher, zumindest auf den ersten Blick, als eine wissenschaftlich fruchtbare Nomenklatur. Eben diesen Katalog bezeichne ich explizit als »Transzendentalkatalog«.

Bei der Namensgebung dieses »Kataloges« stand auch hier, wie bei der heutzutage gebräuchlichen neutralen Redeweise, die alle Eigenschaften übergreifende erkenntnistheoretische Typisierung Pate, denn alle in diesem Katalog aufgelisteten Eigenschaften sind transzendenter Natur: Für keine dieser Eigenschaften kann es entsprechende, im Universum anzutreffende empirische Äquivalente geben.

In und mit der den »Transzendentalkatalog« als Ganzes kennzeichnenden erkenntnistheoretischen Typisierung ist die radikal nicht-empirische Natur Gottes theoretisch festgeschrieben. Sie ist der »harte« inhaltliche Kern der von der Kant aufgezeigten Unmöglichkeit, die Existenz Gottes [selbst] wissenschaftlich beweisen zu können.

An dieser erkenntnistheoretischen Barriere – der empirischen Unentscheidbarkeit der Frage nach der Existenz Gottes – sind letztlich alle tradierten Gottesbeweise gescheitert: durch die transzendente Charakterisierung Gottes war es, wie Kant überzeugend gezeigt hatte, grundsätzlich unmöglich, Gottes selbst beweisen zu können.

Aus eben dieser Unmöglichkeit haben die meisten Kant nachfolgenden Philosophen allerdings die für den Fortbestand ihres Faches fatale und irrige Schlussfolgerung gezogen, dass deswegen auch Metaphysik als Wissenschaft
unmöglich sein muß.

Daß die Existenz Gottes jedoch auch mittelbar – anhand Seines Werkes (i.e. der Struktur des Universums) – beweisbar sein könnte, diese Möglichkeit ist weder von Kant noch von den ihm nachfolgenden Philosophen ernsthaft in Betracht gezogen worden.

Demnächst: Wie Einstein das unsichtbare Atom bewies – ein Präzendenzfall für die Metaphysik?

Keine Meinungen

  1. Hallo,

    dürfen wir diesen tollen Artikel auf unserem Blog über die Taufe zitieren mit der Quellenangabe? Unser Taufe Blog ist http://www.taufoase.de

    Lg
    Horst

Schreiben Sie Ihre Meinung

Ihre Email-Adresse wird Mehrere Felder wurden markiert *

*