Der Morgen

Jean Paul, der sich erst spätnachmittags oder abends zu Papier und Bier in seinen fränkischen Gartenpavillon flüchtete, zählt zu den Ausnahmen. Ebenso ein Gottfried Benn, der die Stunden der Nachtwache in der Charité mit Hilfe chemischer Stimulantia ins Hellwache und Delirante verwandelte. In den meisten Fällen sind unsere Zeugnisse von den Schreibgewohnheiten der Schriftsteller ein einziges Loblied auf den Morgen. Der Vormittag – das ist jene Tageszeit, wo der Pegasus noch ungeduldig am Zügel reißt, wo die Musen hellwach über unseren Bildschirm steppen.

Physiologisch ist dies kein Wunder: Am Morgen ist der Kopf frisch und noch nicht vom Alltag abgelenkt, die Leistungskraft ist auf dem Höhepunkt, der mittäglich gefüllte Magen lähmt noch nicht die Schaffenskraft, typische Vormittagsdrogen wie Tee oder Kaffee tun ein Übriges. Deshalb lief im Hause Thomas Mann am Vormittag alles auf den Zehenspitzen, damit der «Großschriftsteller» in seinem «tiefen Brunnen der Geschichte» nicht gestört würde, zu «taufrischen Zeiten» schrieben auch Brecht, Fontane, Raabe oder ein Ludwig Thoma. Die Reihe der Beispiele ist hier schier endlos. Schandmäuler wie Thornton Wilder behaupteten sogar, dass der stillose journalistische Einheitsbrei vom Redaktionszwang abendlicher Schreiberei herrühre. 

Der Nachmittag des Schriftstellers gehört dann «bloß» der Recherche, der Korrespondenz, der Lektüre oder dem Gespräch. Ein Dichter jedenfalls, der vom Wein und vom nächtlichen Sternenglanz begeistert mit wirrem Haar ekstatische Strophen an seine Linda Lu aufs Papier wirft, der ist eine Märchenfigur aus den Disney-Studios. Selbst der Fürst aller nachtdunklen Romantik, E.T.A. Hoffmann, schrieb erst dann seine Geschichten von sprechenden Katern und Automatenpuppen, wenn die Folgen der Weinexzesse bei Lutter & Wegner verraucht waren.

«Vormittags blieb er unerreichbar», berichtet William Faulkner von Sherwood Anderson: «Da verzog er sich, um allein zu sein und zu arbeiten. Nachmittags gingen wir in die Stadt und redeten mit allerlei Menschen. Abends trafen wir uns wieder und leisteten einer Flasche Gesellschaft. Am nächsten Tag ging derselbe Dreh wieder von neuem los. Ich sagte mir damals, wenn ein Schriftsteller so lebt – dann nichts wie rein in die Schriftstellerei». Und natürlich schrieb in der Folge auch Faulkner nach bewährtem Muster vor allem am Vormittag seine mythischen Romane, die unser Bild der amerikanischen Südstaaten bis heute prägen. 

Selbst wenn einem Schriftsteller die Tageszeiten infolge seines Lebenswandels völlig «verrutschen», bleibt dieses Muster gleich – die erste, jungfräuliche Zeit des Tages gehört dem Schreiben, dann erst folgt das Leben: «Die günstigsten Arbeitsstunden sind nachmittags», gesteht William Styron mit verlotterter Koketterie einem Reporter: «Ich bleibe oft bis spät in die Nacht hinein auf, trinke gern mal einen über den Durst, und dann komme ich natürlich erst spät aus der Horizontalen. … Da bleibt dann nur noch der Nachmittag für den Versuch, meinem Kater zum Trotz das Beste daraus zu machen».

Die Folgerung aus solch großen Beispielen für uns Bewohner von Blogville: Wenn wir einen besonders gelungenen Text ins Netz stellen möchten, dann sollten auch wir vielleicht den Morgen nutzen, und nicht jene Nachtstunden nach einem arbeitsreichen Tag, wo unser Kopf unterschwellig schon von weichen Kissen träumt.

3 Meinungen

  1. Der im Beitrag zitierte William Styron ist am 1. November verstorben, lese ich soeben. Der Gallionsfigur der amerikanischen Moderne wünsche ich ewigen Frieden und jene Heiterkeit, die er in seinen Büchern nie fand.

  2. Das produktive Morgenschreiben hielt auch ich für einen Mythos. Bis mir dann ein schreibender Kollege eloquent erklärte, dass am Morgen die Balance zwischen niedrigerer Schreib- Hemmschwelle, wachem Kopf, leicht beduselter Musen-Offenheit und wohl auch dem Biorhythmus aufs Trefflichste stimmt. Recht hat er.

  3. Den Tiefpunkt meines Biorhythmus – zwischen 13.00 und 15.00 Uhr – schätzt mein Hund wegen der langen Spaziergänge sehr.

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