Das Verb ist immer der Täter

Zunächst die faszinierende Schilderung eines in sich ruhenden, alltäglichen Ereignisses, wo rein gar nichts passiert. Dafür gibt es zahllose kraftvolle Verben, die – mutabor! – dies blanke Nichts in spannendes Geschehen verwandeln: „Fast immer saß der alte gebeugte Gärtner vor dem Hause, verdünnte Pfefferminzabsud, kochte Beeren und gab mir heimlich alles mögliche Gemüse zu essen. Im Garten lebten unzählige Krähen, ihre Nester bedeckten die Wipfel der Bäume, sie kreisten über ihnen und krächzten; manchmal, besonders gegen Abend, flatterten sie zu Hunderten auf, lärmten und scheuchten die anderen; manchmal flog eine von ihnen nur ganz schnell von einem Baum zum anderen und alles wurde wieder still (A. Herzen: Mein Leben, Bd. I, S. 92). Die einzige Passivform tritt dann auf, als auch dieses Bild sich zur Ruhe begibt. Hier schreibt ein Meister seines Fachs.

Abrupter Szenenwechsel: Wir begeben uns jetzt in die lärmende Rush-Hour von Delhi, an einen Ort also, „wo das Leben tost“. Schlaffe Bürokratieverben und Passivformen aber machen diesen Blog-Bericht von Andreas Severin, Geschäftsführer einer großen PR-Agentur für Corporate Communications, zu einer höchst öden und ungenießbaren Angelegenheit: „Wir fahren quer durch die 15-Millionen-Metropole. Der Straßenverkehr zeigt dem europäischen Besucher bereits die Grenzen seiner Mobilitätskompetenz auf. Alle Regeln der Zivilisation scheinen hier auf dem ersten Blick aufgehoben. Autos, Motorräder, Rickschas, Handkarren, Radfahrer, Fußgänger konkurrieren um jede Lücke, die sich hier auftut. Auf der Rückseite des Trucks vor uns steht: „Blow horn. Use dipper at night.“ O.k., gehupt wird hier ohne Unterlass, nach welchen Regeln auch immer, eigentlich will ich nur heil hier durch kommen. Alles scheint in Lärm und Gestank zu versinken. Das darwinistische Recht des Schnelleren und des Stärkeren feiert hier Urstände.“ Ein Abstraktum wie „konkurrieren“ soll anschauliche Verben wie „drängeln“, „schneiden“, „quetschen“ oder „ausbremsen“ gleichwertig ersetzen. Das einzige Mal, wo ein stärkeres Verb von der Reservebank ins Spiel kommt, handelt es sich einen verbalen Methusalem namens „Urstände feiern“, der sich beim Laufen nur noch auf den Bart tritt.

Was lernen wir daraus? Zuerst schauen wir in jedem unserer Sätze auf das Verb – und damit auf die Handlung, auf das Geschehen. Was „tut“ unserer Satz? Haben wir auch wirklich das denkbar stärkste und anschaulichste „Tätigkeitswort“ am Schlafittchen ergriffen? Nur so erzeugen wir Aktion und Leben in unseren Texten. Ein Satz ohne starkes Verb dagegen riecht nach Mumienstaub. Mit anderen Worten: nach Oberregierungsassessor oder Pressesprecher …

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3 Meinungen

  1. Lieber Klaus Jarchow,ich bitte um eine Verbanlayse meiner BlogskböP.S.: Und was gibt es über Substantive zu bloggen?

  2. Nun ja – Substantive sind oft Zeichen, die für Dinge stehen. Welche Ihrer Blogs bitte?

  3. Spannung im Text: Knapp drei Millivolt. Typisch Schwachstromschreiber halt. Statt „Lärm und Gestank“ wünschte ich mir Details: Was riecht da wie stark und wie (un)angenehm, was tönt, was scheppert, was klappert, was poltert? Als Leser will ich das Gefühl haben, dabei zu sein, und dazu braucht der Schreiber Augen, Ohren, eine Nase, kurz: einen Körper. Wenn ich eine gute Reportage lese, dann glaube ich zu hören, zu reichen, zu schmecken, zu fühlen. Wenn ich eine schlechte Reportage lese, glaube ich ungesüsste Zuckerwatte zu essen. Ein Grund mehr, freiwillig nur Gutes zu lesen. Z. B. Niklaus Meienberg („Reportagen“, Band 1 & 2, Limmat Verlag) oder Joseph Roth oder gleich Kisch.

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