Berlin, 16. Oktober 2012. Mit einem denkwürdigen Match gegen Schweden beschließt die deutsche Nationalelf ein turbulentes Länderspiel-Jahr. Das unglaubliche 4:4, bei dem Deutschlands Elite-Kicker eine 4:0-Führung verspielten, war symptomatisch und gleichzeitig spiegelbildlich für die Leistungen der kompletten Saison. Mehrfach folgten auf großartige Auftritte erschreckend schwache Partien und umgekehrt. Wenn man gerade glaubte, die Nationalmannschaft habe zur Souveränität und spielerischen Klasse auf dauerhaft hohem Niveau gefunden, folgten nur wenig später deutliche Leistungseinbrüche. Und wenn so gar nichts klappen mochte und vor allem die Defensive bedenklich wackelte, gelang der Mannschaft nicht nur einmal eine plötzliche Wiederauferstehung, die meist allerdings durch die starken Offensivleistungen des Mittelfeldes verursacht wurden. Doch reicht dies, um bald wieder einen großen Titel zu gewinnen? Was bleibt letztlich vom vergangenen deutschen Fußballjahr hängen?
Das Länderspiel-Jahr 2012: Wieder geplatzte Hoffnungen
Freundschaftsspiele sind im Normalfall nicht besonders aussagekräftig. Jedenfalls nicht vom Ergebnis her. Sie können dem Bundestrainer allerdings wichtige Hinweise auf zukünftige Aufstellungen in Pflichtspielen geben. Dies gilt jedoch auch nur, wenn man entsprechend alle Kandidaten beisammen hat. Vor diesem Hintergrund muss man wohl die ersten Partien des Jahres gegen Frankreich (1:2), die Schweiz (3:5) und Israel (2:0) betrachten. Spielerische Magerkost wurde den Fans von Joachim Löws Mannen in diesen drei „Begegnungen um die goldene Ananas“ geboten. Gegen die Franzosen im Februar war das Team sichtlich lustlos und in viel zu sehr auf die Klubsaison konzentriert. Gegen die Schweiz fehlten entscheidende Spieler der Topmannschaften Bayern München, Borussia Dortmund und Real Madrid. Und der Sieg gegen Israel war keineswegs überzeugend und ließ die Fachwelt an einem guten EM-Abschneiden in Osteuropa zweifeln. Zumal die Deutschen in eine Gruppe gelost worden waren, die im Voraus als schwierigste eingeschätzt wurde.
In der Ukraine angekommen wischte die DFB-Elf dann aber zunächst mal alle Kritikpunkte zur Seite. War das 1:0 gegen Portugal noch recht holprig, so kamen die Erfolge gegen die Niederlande und Dänemark (jeweils 2:1) insgesamt sehr überzeugend zustande. Der Mannschaft fehlte zwar etwas der künstlerische Glanz aus dem WM-Jahr 2010, doch sie wirkte ansonsten höchst abgeklärt und dominierte die durchaus anspruchsvollen Konkurrenten der Gruppe B. Größter Aufreger war noch die Diskussion um Stürmer Mario Gomez, der von ARD-Experte Mehmet Scholl massiv angegriffen wurde, dann aber mit drei Treffern in den ersten beiden Partien konterte.
Während der Vorrunde hatte Joachim Löw meist nur verletzungsbedingt gewechselt. Nach dem Gruppensieg baute der Nationalcoach das Team im Mittelfeld für die Viertelfinalpartie gegen Griechenland jedoch entscheidend um. Miroslav Klose wurde Sturmspitze, Marco Reus und Andre Schürrle durften hinter ihm über die Außen wirbeln. Dieser Umbau erwies sich als voller Erfolg. Das DFB-Team wirbelte die Helenen offensiv kräftig durcheinander und erspielte sich eine Fülle von Möglichkeiten. Das Endergebnis von 4:2 fiel noch zu niedrig aus und nährte die Hoffnungen auf den EM-Titel. Allerdings mussten dem Trainergespann auch die Abwehrprobleme aufgefallen sein. Denn im Halbfinale gegen Angstgegner Italien warf Löw die Aufstellung nochmals durcheinander. Die Maßnahme, mit Toni Kroos einen zusätzlichen defensiven Mittelfeldspieler einzusetzen, mag noch auf Zustimmung gestoßen sein. Doch die Herausnahme von Schürrle und dem überragenden Reus zugunsten des bislang schwachen Lukas Podolski erwies sich als ein entscheidender Sargnagel. In der unglücklichen ersten Hälfte nutzte die Offensive ihre Chancen nicht und schlief die Abwehrreihe in zwei Situationen nahezu komplett, was Italien eine 2:0-Führung einbrachte. Diese gegen eine taktisch wie immer gut eingestellte Squadra Azurra aufzuholen, erwies sich als unlösbare Herkulesaufgabe für das deutsche Team. Wieder einmal versagten einer hoffnungsvollen Elf kurz vor dem Ziel Nerven und Glück. Italien gewann 2:1 und zog ins Endspiel gegen Spanien ein.
Joachim Löw im Kreuzfeuer der Kritik
Zum ersten Mal seit Beginn seines Engagements für den DFB musste der Bundestrainer in der Folgezeit kräftige Medienschelte hinnehmen. Vor allem den Vorwürfen über eine ungünstige Aufstellung und schlechte taktische Einstellung gegen Italien musste er sich stellen. Der Badener wehrte sich dagegen nach Kräften, zeigte sich aber auch weitgehend uneinsichtig und dünnhäutig. Seitdem ist die Stimmungslage auch im Team angekratzt, denn der EM-Kader bestand aus Spielern, die so langsam n den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft gelangen und über das Halbfinal-Ausscheiden naturgemäß enttäuscht waren. Kleine Reibereien und Schuldzuweisungen sind daher wohl normal. Entscheidend wird nun sein, ob sich die Mannschaft untereinander für das neue Ziel WM 2014 motivieren kann und aus einer schlechten gemeinsamen Erfahrung lernt.
Das Länderspiel-Jahr 2012: WM-Qualifikationsspiele geben Selbstvertrauen
Schließlich kam doch noch so etwas wie der goldene Herbst. Die ersten Länderspiele nach der EM schienen zunächst die getrübte Stimmung rund ums deutsche Team aus Spielfeld zu übertragen. Ein 1:3 im Freundschaftsspiel gegen Argentinien wurde noch als Betriebsunfall abgetan. Das 3:0 gegen die Färöer war lästige Pflichterfüllung. Spätestens aber nach dem höchst glücklichen 2:1-Erfolg in Wien gegen Österreich läuteten die Alarmglocken. Die deutsche Elf bot dabei eine über weite Strecken blutleere Vorstellung. In diesem Moment stand die Erfolgsgeschichte der letzten Jahre sicherlich auf der Kippe. Anschließend jedoch der Erfolg in Irland (6:1) für Aufatmen. Das 4:4 gegen Schweden rief hingegen Begeisterung und Bestürzung gleichermaßen hervor. Die Frage steht im Raum, wie eine Mannschaft erst eine Stunde lang Weltklasse spielen kann, um anschließend gegen einen guten, aber nicht überragenden Gegner noch völlig auseinander zu fallen. Joachim Löw hat weiterhin eine sehr starke Mannschaft zusammen, doch die Qual der Wahl ist eine besondere Herausforderung, der er sich zwangsläufig stellen muss. Und die psychologische Komponente muss mehr und mehr in den Fokus rücken, damit die Partie gegen Schweden einen Lerneffekt hat und nicht zum Knacks führt, doch eh nie etwas gewinnen zu können. Unabhängig davon braucht kaum daran gezweifelt zu werden, dass die Qualifikation gelingt.
Am Ende stehen 8 Siege, 1 Remis und 4 Niederlagen zu Buche. Für eine große Fußballnation kein überragendes Ergebnis. Unter Deutschlands Siegen waren sehr wichtige Partien. Die wichtigste jedoch ging wieder einmal verloren. Hoffen wir, dass nach überstandener Qualifikation bei der kommenden WM die richtigen Entscheidungen getroffen werden, um den lang ersehnten Pokal diesmal in die Höhe stemmen zu können.
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