Ich erinnere mich noch gut an meine Ausbildung. Damals hatte Frau Brunsbüttel mit quietschendem Kreidestumpf fröhliche und traurige Gesichter an die Tafel gezeichnet, streng die Augenbrauen gehoben und todernst von mir verlangt: „Frau Messerschmidt, bitte erläutern Sie uns die vier Grundtypen des Temperaments.“ Schon damals hätte ich Sie am liebsten kopfüber aus dem Fenster der häßlichen Ausbildungsbaracke gehangen. Und als wäre das nicht genug, setzte Frau Brunsbüttel noch schadenfroh hinterher: „Und, Frau Messerschmidt, welcher Temperamentstyp sind Sie?“ Wie gerne hätte ich damals wutentbrannt gebrüllt: „Ich bin Melancholikerin! Und jetzt Schnauze!“ Aber dann sortierte ich nur phlegmatisch meine Bleistifte. Später im Studium stellte sich dann endgültig heraus, dass es mit dem anthropologischen Bildungsstand meiner alten Lehrerin nicht weit her war: Denn das Modell der vier Gemütstypen ist hoffnungslos veraltet.
Schwarze Galle, Schleim und viel heiße Luft: Die vier Temperamenstypen
Rückständigkeit hält Ausbilder und selbsternannte Kommunikationscoachs bis heute jedoch nicht davon ab, die verstaubte Lehre der gemütsfärbenden vier Säfte für bare Münze/Wissenschaft auszugeben. Vermutlich liegt's daran, dass mit Hippokrates von Kós (460-370 v. Chr.) einer der berühmtesten Ärzte der Medizingeschichte sie begründet hat. Aber damit gehört sie eben auch ganz klar in die Epoche des Altertums. Heute verhilft uns die Einteilung des Menschen in eine der vier Grundgemüter in erster Linie zur Grobcharakterisierung. So überzeichnen wir im Gespräch karikaturenhaft die Wesensmerkmale eines Bekannten, und verständigen uns so effektiv über den hippokratischen Gemüter-Code („Du weißt schon, dieser Choleriker!“) Und jeder versteht intuitiv, was gemeint ist.
Ein Choleriker ist so!
Beim Choleriker (Element: Feuer) ist der vorherrschende Körpersaft gelbe Galle (griech. chole). Weil sein Wesen so heißblütig und ungebremst daherkommt, ist seine beste Jahreszeit der Sommer. Seine optimale Tageszeit ist der Mittag, da ist er häufig wach (ha!). Sein Gang ist x-beinig (ahja!) und die Gestik strebt kraftvoll abwärts. Seine Tugend (Mut) reimt sich auf seine Untugend (Unmut). Wäre da nur nicht diese Falte an seiner Nasenwurzel, die treibt ihn zur Tobsucht.
[youtube R90rCdplA-M]
Sanguiniker bis aufs Blut
Blut (lat. sanguis) ist der vorherrschende Körpersaft des Sanguinikers. Seinem Element (Luft) entsprechend ist er ein wahrer Luftikuss. Emotional auf der Altersstufe eines Kindes befindlich, ist er ein Träumer (besonders morgens) und wird stark von seinen Trieben gelenkt. Er ist auch oft leichtsinnig, was sich in einer leicht hüpfenden Gangart ausdrückt. Die ultimative Jahreszeit ist für ihn der Frühling. Wobei naja: Eigentlich ist bei ihm sowieso immer Frühling. Vor allem in der Liebe, davon hat der Sanguiniker nämlich jede Menge. Überhaupt ist er sehr begeisterungsfähig. Leider verpufft der Enthusiasmus bei ihm häufig genau so schnell wie er gekommen ist. Dann wendet sich der Sanguiniker sprunghaft dem nächsten Objekt der Hingabe zu. Schließlich ist er Meister im temporären Anhimmeln. Nur mit der Wahrheit nimmt er's dann leider nicht so genau.
[youtube iXid2kdchzE]
Melancholie, bitterste Galle
Richtig schlecht dran ist der Melancholiker. Sein Element ist die Erde, deshalb ist er meistens am Boden. So ist seine beste Tageszeit denn auch der Abend, den assoziiert er nämlich mit Tod, Sterben und Krankheit. Das erklärt auch seine hängenden Mundwinkel. Sein Talent ist Mitleid, seine Krux Wehleid. Ansonsten läuft bei ihm nicht viel. Dafür ist er sehr empfindsam, woraus er durchaus kreatives Potential entfalten kann. Jedenfalls wenn er sich dazu aufrafft. Der Melancholiker ist besessen von der Ergründung der Ursache seiner eigenen Melancholie. Beim Versuch den gordischen Knoten zu lösen, dreht er sich häufig um sich selbst und bewegt sich gleichzeitig im Kreis.
[youtube wEM2fQWDYtc]
Phlegmatiker: diese schleimigen Typen!
Der wichtigste Lebenssaft des Phlegmatikers ist zähflüssiger Schleim (Phlegma). Irgendwie eklig, vielleicht ist deshalb sein Element (kaltes, klares) Wasser. Aber es hilft alles nichts, denn der Phlegmatiker hat ein kleines Antriebsproblem. Sein Gang ist schlurfend (klar!) und sein Wesen vergreist. So ist es fast verwunderlich, dass er keinen Buckel hat. Immerhin hängen bei ihm Augenlider und Kiefer. Das gibt ihm einen leicht dämlichen Gesichtsausdruck. Durch seine Tendenz zur Teilnahmslosigkeit wirkt er mitunter desinteressiert bis kaltherzig. Da ist es (s)ein ganzes Glück, dass er eine der am meisten geschätzten Tugenden besitzt: Himmlische Geduld.
[youtube xXr-KsJr1u4]
Abschließend eine konstruktive Notiz an Frau Brunsbüttel
Frau Lehrerin, machen Sie Ihre Hausaufgaben: Es gibt inzwischen zahlreiche zeitgenössischere(!) Instrumente zur Persönlichkeitsklassifizierung. Zur Erfassung der 16 Grundmuster menschlichen Verhaltens lässt sich ein Test namens MBTI anwenden (Myers-Briggs-Typindikator). Oder, etwas allgemeiner, der Big Five Persönlichkeitstest. Gut, aus wissenschaftlicher Perspektive mögen solche grobschlächtigen Raster immer noch halbseiden sein: Rein pragmatisch gesehen sind sie jedoch durchaus brauchbar. So kommen sie beispielsweise im Personalwesen zum Einsatz. Und auch im Kreativbereich sind die neuen Klassifizierungssysteme ganz hilfreich: Sie taugen beispielsweise gut als Narrationswerkzeug für Texter und Autoren, um glaubwürdigere Figuren anzulegen. Solche wie Sie, Frau Brunsbüttel.
[youtube sESdsEQPMFM]