Alle haben sich wieder auf ihre Plätze gehievt und betrachten mit mühsam geöffneten Augen den Vorstellungsfilm von Jan Böttcher, der ihn als Musiker zeigt und ein paar der üblichen Künstler-Worte sagen lässt. Der Text beginnt viel versprechend und klingt zum Glück überhaupt nicht nach „Berliner Schule" oder dem, was ich dafür halte. Noch bevor verraten ist, in welcher Gegend wir uns befinden, habe ich genau diesen Landstrich vor Augen. Mit der Fähre fahren wir in diese Geschichte und sehen die Kreuze am Straßenrand. Es geht um drei (anscheinend völlig frauenlose) Männer. Der jüngste ist auf dem Weg an den Ort des Aufwachsens, der jetzt ganz woanders liegt. Denn es geht auch um jüngere deutsche Geschichte, um Grenzen und Seiten, auf denen man steht. Sture, kauzige Typen. Der unrasierte Autor liest angenehm vor. Und obwohl praktisch nichts passiert, langweile ich mich überhaupt nicht. Ich mag so was. Und ich kann eine gewisse Zärtlichkeit des Autors für seine Figuren spüren, die ich sehr schätze. Die Sprache ist klar und plastisch (auch wenn ich hier und da feilen möchte), die Dialoge scheinen mir „echt", was schwer ist, wie ja leider immer wieder auffällt. Würde aber noch Überarbeitung wünschen, neue/andere Sprach-Bilder, die Rollen nicht ganz so eindeutig verteilt und einen Bogen um das eine oder andere kleine Klischee. Genau wird alles erklärt und bei wem’s nach der Beschreibung des weißen Pferds auf weißem Grund noch nicht geklingelt hat, dem wird auch noch gesagt, dass es um Niedersachsens Wappen geht. Und ja, die Mitglieder der Jury, die das zu genaue Zusammenpassen erkennen, haben nicht völlig Unrecht. Obwohl ich finde, dass es schon eine ungewöhnliche Spannung hat, dass ein Kauz den anderen pflegt und damit das klassische Männlichkeitsterrain hinter sich lässt. Dennoch ist es merkwürdig, dem Text praktisch vorzuwerfen, er sei zu gut.
Sympathisch wirkt auch Björn Kern. Liegt vielleicht auch daran, dass ihn sein Film in Marseille zeigt, für das ich private Sentimentalität hege. Allerdings steckt der Zivi-Text in irgendwas fest, was der Autor unbedingt transportieren wollte. Es geht um Elsa und ein bisschen auch um Bruno. Sie hat Mühe, sich zu orientieren, zu erinnern und allgemein zurechtzufinden. Weil sie sehr alt ist und auf den Tod wartet. Bruno ist jung und ihr Pfleger. Für mich hat Björn Kern sich am sehr lohnenden Thema verhoben. Die Bilder sind mal gut, mal platt und die Vorhersehbarkeit stört mich. Und trotz der Schilderung unangenehmer (Verfalls-)Situationen, bleibt er mir in der Wortwahl zu politisch korrekt. (zB heisst es oft „Gesäß", nur an einer Stelle kann der Autor sich dazu durchringen, überhaupt das Wort „Hintern" zu benutzen.) Ich meine in jedem Abschnitt zu spüren, dass er sich nicht getraut hat, die Geschichte zu schreiben, die er schreiben wollte. Das Risiko des Textes hat sich in der Themenwahl erschöpft. Das macht mich ärgerlich. Mitunter gefallen mir Stellen: es gibt ein paar schöne Beschreibungen und auch die Darstellungen der Wechsel zwischen Elsas wacher Situationsanalyse und Ratlosigkeit finde ich sehr gelungen. Aber Passagen wie die, als er „always look on the bright side of life" im Radio hört, machen mir alles wieder kaputt. Dabei kann der Autor was, sprachlich ist es nicht übel, aber leider auch nicht begeisternd. Und es scheint immer diesen Punkt zu geben, über den er nicht hinausgehen mag.
Dummerweise erklärt der Autor innerhalb der Diskussion, „keine Ahnung von Perspektive" zu haben. Hallo? Ich finde, dass dieses Jahr den Autorenbiografien innerhalb der Textbewertung viel zu viel Bedeutung beigemessen wird. Vielleicht sollte man die Lebensläufe hier abschaffen. Wieder sind die Juroren bei der „Apokalypse". Und beim Vergleich zu gestern. Denn wie immer mal wieder anklingt, hat die Jury gestern noch lange über PeterLicht nachgedacht/diskutiert und darüber, dass einige Jurymitglieder sich einer Einschätzung verweigert haben. Corino spielt den Beleidigten und Frau Radisch schimpft. Herrlich!
Ein schwerer Text ist das, der einem weder Humor noch spannenden Plot gönnt. Irgendwas mit Adoleszenz und Mobbing in der Schule. Eine Großmutter gibt es und Mitschüler. Sie bleiben gesichtslos. Ich bin nicht berührt. Statt dessen: 70er-Jahre-Assoziation. Wien und dieses Gefühl kurz vor der Todessehnsucht – das ist ja auch nicht ganz neu. Flucht, Vergangenheit, Flohmarkt. Ich muss mich immer wieder zwingen, dabei zu bleiben. Die einsilbige Figur gegen die epische Darstellung. Gleichmäßiges Tempo. Bin weder genervt, noch begeistert, muss aber anerkennen, dass es keiner dieser distanzierten Jungschriftsteller-Texte ist, sondern der Autor viel emotionale Nacktheit präsentiert. Dennoch kann ich mit dem Text nicht viel anfangen. Vielleicht zu viel Wien. Corino kann nicht anders: er muss klugscheissern. Wohl immer noch beleidigt.
Fazit: Es hat Spaß gemacht. Daumen hoch für Vielfalt und Dramaturgie (=Reihenfolge der Teilnehmer – der Zufall hat einen guten Job gemacht). Prognose: Der Bachmannpreis geht an Lutz Seiler, der Publikumspreis nicht. Jan Böttcher kriegt auch einen, vielleicht schafft es auch Silke Scheuermann. Schmidt kriegt vielleicht den Publikumspreis? Zwicky? Bin auf Überraschungen gespannt.
Werbung
Gerne gelesen. Merci.
Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr!Selbstverständlich habe ich als Protagonist des Bachmann-Schlusspunktes nach mir selbst gegoogelt, um Ihre freundlichen Worte zu mir, vor allem aber zu meinem Autor zu entdecken. Er lässt ausrichten, dass er sich darüber gefreut hat! Und in Wahrheit hat er auf dem Kopfe noch dichtere Haare als im Fernsehen, jawohl!Mit herzlichen GrüßenHerr Schliff
…und ich fürchtete schon, sie wären tot, Herr Schliff! – Um so erfreuter erwidere ich Ihre Grüße, natürlich auch an den Herrn Autor!
Ha, da haben Sie sich alle getäuscht! Glauben Sie denn wirklich allen Ernstes, ich habe nicht mit dem Kocher gerechnet? Glauben Sie, ich laufe sehenden Auges in mein schlimmstes Unglück? Nein, meine Liebe. Was wirklich geschah, das wird im Argen bleiben. Aber ich bin putzmunter und vertrete gewissermaßen meinen Autor. Er will nämlich verheimlichen, dass er sich seit seiner Rückkehr aus Klagenfurt manisch und aus reinen Selbstkasteiungsgründen ständig selbst googelt, eigentlich macht er den ganzen Tag nichts anderes. Aber er hat sich, sagt er, über Ihren ja dann doch recht freundlichen Eintrag gefreut. Und im Übrigen findet er es schön, den Spieß einfach herumzudrehen und plötzlich – wie aus dem Nichts – mit seinem Welpenhaar im Gestöber der Bloggerwelt herumzufreveln. Oh, wie ich höre, muss ich kurz nach unten. Dem Hiwi ist ein Dachziegel auf den Fuß gefallen. Sehr eilig, aber durchaus herzlich: Ihr Herr S.