Nur wenn die Koinzidenz des Kleinsten und des Größten innerhalb unseres Universums empirisch realisiert ist, ist es gerechtfertigt, so lautete die Vorgabe der in den letzten blogs entwickelten Argumentation, die Existenz Gottes (i.e. des Transzendenten) naturwissenschaftlich für bewiesen zu halten.
In dem letzten blog Michelangelos Touchdown habe ich einen Befund vorgestellt, der meines Erachtens dasjenige Faktum innerhalb unseres Universums ist, der die Allgegenwart Gottes empirisch indiziert: Der Trägheitskompass stimmt mit dem Sternenkompass überein.
Die im letzten blog gewagte These: Diese faktische Koinzidenz ist das empirische Äquivalent der von Nikolaus von Kues theoretisch formulierten »Koinzidenz des Kleinsten und des Größten«.
Wie ist scheint, bezieht sich die empirische Feststellung, soweit es den Begriff des Sternenkompasses betrifft, auf eine Skala, die die größte uns bekannte räumliche Ebene ist. Dies war ein wichtiger Schritt in Richtung Gottesbeweis. Doch noch sind wir nicht am Ziel. Es taucht unvermeidlich die Frage auf: Wenn sich der Sternenkompass auf das Größte bezieht, bezieht sich dann der Trägheitskompass auch auf die kleinste räumliche Ebene?
Die Beantwortung dieser Frage berührt tiefe, ungelöste Grundlagenprobleme der modernen Physik. Diese Probleme gelten der eingangs erwähnten Frage: Was ist der Ursprung von Trägheit? Hinter dieser Frage verbirgt sich ein rätselhaftes Phänomen, für das die Physiker bis heute noch keine wirklich befriedigende Antwort geben können: Wenn auf einen Körper keine Kräfte einwirken, bewegt er sich auf gerade Linie fort – bis in alle Ewigkeit! Diesen Tatbestand quittierte der amerikanische Physiker Richard Feynman, der zu Lebzeiten als der intelligenteste Mann auf unseren Planeten gefeiert wurde, lakonisch mit den Worten: "Das weiß niemand. Letztlich stoßen alle Erklärungen irgendwo an eine Grenze."
Tatsächlich lässt sich dieses rätselhafte Phänomen über die Koinzidenz des Kleinsten und des Größte als Reflexion des Transzendenten innerhalb unserer Welt deuten. Es ist unmittelbar einsichtig, dass diese Deutung nicht nur für Physiker, sondern auch für Nicht-Physiker der schwierigste Part des hier entwickelten modernen Gottesbeweises ist. Dennoch soll der Versuch unternommen, sich dieser Deutung schrittweise anzunähern. Er führt uns, wie wir noch sehen werden, tief in das prinzipielle Netzwerk der beiden Relativitätstheorien hinein.
Der Schlüssel, um diesem rätselhaften Phänomen auf die Spur zu kommen, ist der Begriff des INERTIALSYSTEMS. Es ist ein klassischer physikalischer Begriff und bezeichnet üblicherweise ein Bezugssystem, in dem der Trägheitssatz Gültigkeit hat.
Der Begriff Inertialsystem freilich lässt sich auch dahingehend deuten, dass er einen spezifischen räumlichen Bereich bezeichnet, in dem der Trägheitssatz gilt – indem sich also kräftefreie Objekte im Zustand der Ruhe oder der geradlinig-gleichförmigen Bewegung befinden. Bemerkenswert ist nun, dass sich alle Objekte, soweit sie sich auf den größten räumlichen Bereich unseres Universums beziehen – also auf das, was wir hier unter der Rubrik STERNENKOMPASS behandelt haben -, in einem Zustand der relativen Ruhe zueinander befinden. Das bedeutet, dass unser physikalisches Universum im Größten ein Inertialsystem darstellt; wenigstens näherungsweise. Es stellt sich folglich die Frage: Gilt dies auch für das Kleinste?
Ganz generell lässt sich diese Frage bejahen. Es gilt unter modernen Physikern als Konsens, dass der Trägheitssatz wenigstens in einem infinitesimal kleinen Bereich Gültigkeit hat. (Da manche Physiker hinter dieser Annahme – zu Recht – die Existenz eines absoluten, unwandelbaren Hintergrundes wittern, suchen sie nach theoretischen Ansätzen, diese Hintergrundabhängigkeit radikal zu überwinden; ein Unterfangen, das, wie ich glaube, nicht nur physikalisch irreführend ist, sondern dass auch grundlegend zum Scheitern verurteilt ist. Einstein ist am Ende seines Lebens zumindest zu diesem Schluss gekommen.) Der kürzlich verstorbene Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat diesen Konsens auf die vielleicht präziseste Weise beschrieben.
„Nach Auffassung der heutigen Physik kann dieser Satz nicht durch Erfahrung direkt bewiesen oder widerlegt werden, denn die heutige Physik kennt keinen Körper, auf den keine Kraft einwirkt. Gleichwohl gilt er als empirisch bestätigt. In Popperscher Sprechweise kann man etwa sagen: die These, bei unbegrenzt abnehmender Kraft nähere sich die Bewegung jedes Körpers asymptotisch der gleichförmigen, hat bisher jeder Falsifikation getrotzt."
(in seinem Buch: Zeit und Wissen, Über das Trägheitsgesetz)
Das bedeutet, um auf die von Nikolaus von Kues formulierte Koinzidenz zurückzukommen, dass in unserem Universum das Kleinste und Größte in der Tat „von derselben Art" zu sein scheinen: In beiden Fällen haben wir es mit einem Inertialsystem zu tun. Es ist daher möglich, die Übereinstimmung von Trägheitskompass und Sternenkompass als das empirische Äquivalent der Koinzidenz des Kleinsten und des Größten zu deuten. Wenn wir dieser Deutung folgen, ist der Gottesbeweis komplettiert: Wir wissen nun, dass Gottes Allgegenwart kein Mythos ist, sondern dass sie real existiert. Quot erat demonstrandum – möchte man meinen.
Doch in dieser Form von Beweisführung steckt – wie immer – der Teufel im Detail, denn die Verwirklichung der Koinzidenz des Kleinsten und des Größten innerhalb unseres Universums ist empirisch nicht eindeutig, denn es lässt sich nicht nur im Kleinsten und im Größten ein Inertialsystem ausmachen, jedes endlich ausgedehnte Gebiet, dass frei von (gravitativen) Objekten ist und in denen auch sonst keine Kräfte wirken, ist ein Inertialsystem – und davon gibt es letztlich unendlich viele. Hierdurch verliert die Feststellung, dass im Kleinsten wie auch im Größten ein Inertialsystem nachgewiesen werden kann, erkenntnistheoretisch erheblich an Gewicht.
Es ist wie eine Liebeserklärung, die man nicht nur an den Ehemann, sondern gleichzeitig an viele andere Männer richtet. Es lässt den Verdacht aufkommen, dass die Liebeserklärung an den eigenen Mann nicht allzu ernst gemeint ist. Will also unsere unbekannte Schöne dieser Liebeserklärung Gewicht verleihen, muss sie uns schon glaubhaft erklären können, was an dem eigenen Mann so besonders sein soll? Warum hast Du ihn geheiratet – und nicht all die anderen? Sind es seine schönen blauen Augen, sein Gehalt – oder sind es seine guten Aussichten? Derlei Fragen werden wir stellen.
In genau derselben Weise mag man sich fragen: Was zeichnet ein im Kleinsten realisiertes Inertialsystem vor allen anderen Inertialsystemen aus – mit Ausnahme des Größten natürlich? Was macht dieses Inertialsystem so besonders? Diese Fragen bringen uns in Kontakt mit einem Gedanken, den Albert Einstein vor exakt einhundert Jahren einmal als seinen glücklichsten Gedanken bezeichnet hat. Im nächsten blog soll gezeigt werden, dass man ein solchen glücklichen Gedanken auch ein zweites Mal haben kann…