Zuviel Chemie in der deutschen Gastronomie beklagt die französische Gourmetbibel Gault Millau (erscheint im Christian Verlag, München) in ihrer jetzt erscheinenden Deutschlandausgabe 2009. „Warum müssen selbst Spitzenköche zu dünn geratene Forellenfilets mit einem künstlichen Kleber namens Transglutaminase zu ansehnlicherem Fisch oder Jacobsmuschelfetzen zur großen Meeresfrucht aufmotzen? Es genügt doch, dass die Industrie kleine Fleischstücke zum sogenannten Formschinken verbindet. Warum muss ein Berliner Kochstar mit Xanthan, das für Tapetenkleister verwendet wird und Ketchup so schön zähflüssig werden lässt, Radieschensaft zu rosa Ravioli formen? Ist Methylzellulose vonnöten, damit passierte Kartoffeln höhere Temperaturen aushalten können und nicht auseinanderfallen, muss Ricotta im Kalziumbad geliert werden, damit man ihn zu niedlichen Klößchen formen kann? Es ist schon kurios, wie gut und teuer sich in Deutschland ‚Texturas Adrià’ und andere billige Chemikalien wohlklingend als ‚Sferificación’ verkaufen lassen, wenn dabei von Starköchen die Rede ist. Man stelle sich vor, die großen Lebensmittelkonzerne hätten mit der vollmundigen Verheißung, dass ihre Convenience durch molekulare Methoden ungeahntes Tischfeuerwerk beschere, ‚Best of Lebensmittelchemie’-Kits für 99,80 Euro auf den Markt gebracht. Noch kurioser ist, dass zur selben Zeit, da aufgrund wachsenden Gesundheits- und Umweltbewusstseins die Lebensmittelindustrie von der Chemie in ihren Produkten wegkommen will (oder das zumindest heftig vorgibt), die weniger intelligenten oder besonders skrupellosen Köche so gierig danach greifen, als ob in der molekularen Küche das Heil ihrer Zukunft läge.“
Stachelhäutige Seegurke mit Sauce von Räucherpaprika beim „Koch des Jahres“
Der 38-jährige Nils Henkel vom „Restaurant Dieter Müller“ im Hotel „Schloss Lerbach“ in Bergisch Gladbach wurde von der Deutschland-Redaktion des Gault Millau zum „Koch des Jahres“ gekürt. Aus der Begründung: „Mit ausgefeilter Technik, enzyklopädischem Wissen und einer großen Offenheit gegenüber allen zeitgenössischen Strömungen der weltweiten Kulinarik reifte er zum Spitzenkoch.“
Der passionierte Marathonläufer Henkel übernahm am 14. Februar 2008 die alleinige Küchenverantwortung von Dieter Müller, mit dem er seit 1997 zusammengearbeitet hatte, zunächst als zweiter Sous-Chef und seit 2004 als gleichberechtigter Küchenchef. Er beeindruckte die Tester, die glauben, dass er „sein gewaltiges Potential noch gar nicht aus- schöpft“, durch Gerichte wie „exzellenter Carpier-Lachs spanischer Herkunft mit safranisiertem Bouillabaisse-Gelee, stachelhäutige Seegurke (in China als Trepang geschätzt) mit Sauce von Räucherpaprika auf Olivenöl- Ofenkartoffeln oder Taubenbrust mit Süßholzgewürzjus, Auberginenpüree, Bohnen in diversen Aggregatzuständen und knusprigem Cannellono, der mit geschmortem Fleisch und Innereien gefüllt ist“. Henkel erhielt vom Gault Millau, der nach dem französischen Schulnotensystem urteilt, 19 von 20 möglichen Punkten und führt damit eines der „weltbesten Restaurants“.
Eine höhere Bewertung als Henkel haben hier nur drei Köche
Je 19,5 Punkte bekamen wieder Harald Wohlfahrt von der „Schwarzwaldstube“ in Baiersbronn-Tonbach, weil „die Arrangements des Aromenjongleurs, bildschön und oft von beinahe zenartigem Purismus, von einzigartiger Finesse sind“, Helmut Thieltges vom „Waldhotel Sonnora“ in Dreis bei Wittlich in der Südeifel, „dessen Kochkunstwerke so himmlische Harmonien herstellen wie die Musik eines Wolfgang Amadeus Mozart oder Johann Sebastian Bach“, und „der unerschöpflich kreative, sich immer wieder neu erfindende“ Joachim Wissler vom „Vendôme“ in Bergisch Gladbach, der „Thunfischbauch mit Eukalyptusöl und Gänseleber- Apfeleis“ bietet und „hochwertiges Schweinefleisch in Deutschlands Edelküchen hoffähig machte“.
Diesem Trio folgen mit je 19 Punkten außer Henkel noch 6 Köche, unter ihnen die aufgewerteten Christian Bau vom „Schloss Berg“ im saarländischen Perl-Nennig und Sven Elverfeld vom „Aqua“ in Wolfsburg. Bau wird als „ein Magier der Mikroelemente“ gepriesen, bei dem eine hochdifferenzierte Kleinteiligkeit triumphiert, die alles, was farbenprächtig den Teller ziert, wie von selbst zu einem harmonischen, überaus gefälligen Gesamteindruck rundet“. Elverfeld beeindruckte durch seine „außerordentlich aufwendige Feinarbeit und die Verwandlung des Bodenständigen in höchste Küchenkunst“. Er kreierte auch das „Menü des Jahres“ im Gault Millau. Es bietet sowohl Pumpernickel-Krokant mit Bismarckhering und warmen Räucheraal mit Renette als auch Rochenflügel mit aufgeschäumter Spitzmorchelsahne und Schokoladentoffee mit Olivenölbonbon.
Ihre vorjährigen 19 Punkte verteidigten Klaus Erfort vom „Gästehaus Erfort“ in Saarbrücken, der „weiterhin in der schwierigen Kunst brilliert, mit wenigen, aber treffsicher eingesetzten Aromen größten Effekt zu erzielen“, Heinz Winkler von der „Residenz Heinz Winkler“ im oberbayerischen Aschau, dessen Küche „der reinen geschmacklichen Harmonielehre verpflichtet und eine der leichtesten im Lande ist“, Thomas Bühner vom „La Vie“ in Osnabrück als „souveräner Genussgestalter, der alle modernen Techniken beherrscht“ und Hans-Stefan Steinheuer von „Steinheuers Restaurant zur alten Post“ in Bad Neuenahr bei Bonn, der „mehr Wert auf Produktehrlichkeit als auf technische Spielereien und überzogene sensorische Experimente legt“.
„Aufsteiger des Jahres“: Jörg Glauben, der Kabeljau, Aprikose und Gulaschsaft vereint
18 Punkte schafften auf Anhieb in ihren neuen Restaurants Christian Jürgens, seit Mitte August 2008 in der „Überfahrt“ in Rottach-Egern am Tegernsee, und Tim Raue, seit Ende Juni im Berliner „Ma Tim Raue“. In dem „mit Millionenaufwand gebauten Solitär von fernöstlichem Restaurant“ ließ Raue „ein Flaggschiff der neuen, selbstbewussten deutschen Weltküche vom Stapel. Er bietet eine eigenständige Avantgardeküche mit chinesischem Akzent und mitten in Berlin Hongkonger Verhältnisse“ (er war zuvor im Hotelrestaurant „44“). Jürgens kocht „ im luxuriösesten Hotel am Tegernsee ohne Produktprotzerei, Dekorationseifer und Imponiergehabe, zum Beispiel Gambas in einem Paellasud, den man mit geschlossenen Augen löffeln sollte (mehr Mittelmeerfeeling geht nicht), oder in mühseliger Arbeit ausgehöhlte Amalfi-Zitrone, die im Saft zahlloser Brüder und Schwestern aromatisiert und mit Zitronenquarkmousse gefüllt ist“ (er war zuvor auf der „Burg Wernberg“ in der Oberpfalz).
Auf 18 Punkte steigerten sich Jörg Glauben von der „Fasanerie“ in Zweibrücken und Dirk Luther von der „Meierei“ in Glücksburg bei Flensburg. Glauben gefiel durch „die schlichtweg verblüffende Kombination von Kabeljau und Pastrami (vor allem von den Amerikanern geschätztes Rindfleisch, das gepökelt, geräuchert und gekocht wird) mit dreifarbigen Paprikaröllchen, gebratener Aprikosenbrioche, einem Hauch Petersilienöl und – ganz wichtig – einem Gulaschsaft, der die Paprikaschärfe aufnimmt und Fleisch wie Fisch mit kräftigen Schmornoten versorgt“. Weil er „traditionellen Tugenden und innovativen Eifer in besonderem Maße vereint“, wurde er als „Aufsteiger des Jahres“ geehrt. Luther imponierte mit „seiner im Ganzen gebratenen Rotbarbe, die er entgrätet und senkrecht auf das feine Bone-China-Porzellan stellt und mit Miniartischocken und aromatischem Spinatpüree garniert“.
18 Punkte erkochten sich wieder die zwischenzeitlich auf 17 Punkte abgewerteten Berthold Bühler und Henri Bach von der „Résidence“ in Essen („die Küche erreichte – ohne dem Gast gesuchte Verbindungen zuzumuten – eine Perfektion in der harmonischen Kombination auch disparater Produkte“), Juan Amador vom „Amador“ in Langen bei Frankfurt („die teilweise artistische Präsentation makelloser Aromen in enormer Stilsicherheit und mustergültiger Technik hat Witz, manches wird auf chirurgisch anmutenden Metallgestellen und Skulpturen oder Schiefer attraktiv inszeniert.“) sowie Andree Köthe und Yves Ollech vom „Essigbrätlein“ in Nürnberg („deren Gewürzküche erzielt mit manch vermeintlich harmloser Zutat überraschende Effekte und erfordert durchweg sehr bewusstes Essen, ein Eingehen auf gewagte Kompositionen“). Insgesamt erkochten 27 Küchen 18 Punkte, die für „höchste Kreativität und bestmögliche Zubereitung” stehen. Von den zwischen 19,5 und 18 Punkten bewerteten 37 Köchen stehen 8 in NRW, sieben in Baden- Württemberg, fünf in Bayern und je vier in Berlin und Rheinland-Pfalz am Herd.
17 Punkte erreichten erstmals Thomas Bellefontaine vom „Schloss Loersfeld“ in Kerpen bei Köln, Denis Feix vom „Il Giardino“ in Bad Griesbach bei Passau, der erst 23-jährige Dirk Grammon vom „Gourmetrestaurant Dirk Grammon“ im westfälischen Werne, Stephan Schilling vom „Schillingshof“ in Friedland bei Kassel sowie die Brüder Alejandro und Christopher Wilbrand vom Restaurant „Zur Post“ in Odenthal bei Leverkusen.
906 Restaurants ausgezeichnet, darunter 115 in den neuen Bundesländern
Insgesamt bewertet der alljährlich wegen seiner strengen Urteile und deren zuweilen sarkastischer Begründung von den Köchen gefürchtete, von den Feinschmeckern mit Spannung erwartete Gault Millau in seiner neuen Ausgabe 1.130 Restaurants. Die 26 Tester, die stets anonym auftreten und dieses Jahr 296.000 Euro Spesen machten, verliehen 905 Luxuslokalen und Landgasthöfen, Bistros und Hotelrestaurants die begehrten Kochmützen. Dazu mussten die Köche mindestens 13 von 20 Punkten erreichen, was einem Michelin-Stern nahekommt.
Auch 115 Küchenchefs in den neuen Bundesländern erkochten diese Auszeichnung. An ihrer Spitze stehen mit 17 Punkten Marcello Fabbri vom Restaurant „Anna Amalia“ in Weimar, Oliver Heilmeyer vom „17fuffzig“ in Burg (Spreewald), die beiden Leipziger Detlef Schlegel vom „Stadtpfeifer“ und Peter Maria Schnurr vom „Falco“ sowie Dirk Schröer vom „Caroussel“ in Dresden.
Da auch die Welt der Gourmandise im ständigen Wandel ist und die Plätze im Feinschmeckerparadies immer wieder neu gerührt und erkocht werden, servierte der Gault Millau im Vergleich zur Vorjahrsausgabe 104 langweilig gewordene Restaurants ab und nahm 98 inspirierte Küchen neu auf. 116 Köche wurden höher als im letzten Guide bewertet, 131 niedriger. 61 Küchenchefs verloren die Kochmütze.
Außer dem Koch, Aufsteiger und Menü des Jahres zeichnete der Guide noch weitere kulinarische und gastronomische Leistungen aus:
· „Entdeckung des Jahres“: Alexander Schütz vom Ende 2007 eröffneten „St. Benoît“ in Oberammergau,
· „Oberkellner des Jahres“: Marie-Anne Raue von den Anfang 2008 eröffneten Restaurants „Ma Tim Raue“ und „Uma“ in Berlin,
· „Sommelier des Jahres“: Hagen Hoppenstedt vom „Haerlin“ in Hamburg,
· „Restaurateur des Jahres“: Herbert Seckler, der vor 30 Jahren das „Sansibar“ in Rantum (Sylt) eröffnete und es zu Deutschlands meistbesuchtem Lokal sowie zum Wein-Imperium und Lifestyle-Label aufbaute,
· „Pâtissier des Jahres“: Matthias Ludwigs vom „Graugans“ in Köln,
· „Kochschule des Jahres“ wurde die jüngst eröffnete Kochschule des Robinson-Clubs in Fleesensee, die modernste in Deutschland. In ihr unterrichten neben dem kulinarischen Berater des Clubs, Otto Koch, Starköche aus Berlin und Hamburg nicht nur Feriengäste, sondern auch andere Lernwillige.
· „Barkeeper des Jahres“: Bernhard Stöhr vom Hotel „Traube Tonbach“ in Baiersbronn,
· „Hotelier des Jahres“: Ralf J. Kutzner von der „Bülow Residenz“ in Dresden,
· „Cigar Lounge des Jahres“ wurde der der neueingerichtete Rauchsalon des Kempinski Grand Hotel Heiligendamm. Er bietet „Aficionados auf 100 m² entspannte Genussfreude mit allen Annehmlichkeiten einer exquisiten Bar“.
Als zusätzliches Schmankerl testete der im Münchner Christian Verlag erscheinende Reiseführer für Genießer (900 Seiten, 29,95 Euro, ISBN 978- 3-88472-918-2) die Restaurants des ZDF-Traumschiffs, „MS Deutschland“, dessen Küche der 33-jährige Erik Brack leitet, der im „Erbprinz“ in Ettlingen lernte und danach Sous-Chef im „Alten Gymnasium“ in Husum war. Ferner beschreibt und klassifiziert der Guide 405 Hotels.
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