Nehmen wir an, ich wollte im Andenken an einen jüngst verstorbenen Jugendfreund endlich jenen großen Bremerhaven-Roman schreiben, auf den die Welt schon so lange wartet. Würde ich jetzt autobiographisch vorgehen, dann wäre mit unserer Clique herzlich wenig anzufangen: zu widersprüchlich, zu verklemmt und – auch das, ja! – zu langweilig waren wir alle im Grunde damals.
Ungeformte Wesen aber, wenn man nicht gerade Anne Frank heißt, wecken immer nur wenig Interesse. Für das Genre des exakt Autobiographischen muss man erst berühmt sein – nicht umgekehrt.
Also backe ich mir neue Charaktere aus dem vorhandenen Lehm der Erinnerung. Ich forme ‚Mischcharaktere', nehme diese Eigenschaft von jenem und jene Macke von diesem, so lange bis der Jung-Werther der Hippiezeit wie aus einem Guss erstrahlt. Sogar etwas hinzuerfinden darf ich dabei, schließlich bin ich ja Demi-Gott, die große Litteratte …
Da wäre bspw. mein alter Freund Udo, der immer ein wenig ‚queer' auf mich wirkte und für Astronomie und Perry Rhodan schwärmte. Einzelheiten, aus denen sich so noch nichts Vernünftiges ergibt. Was aber wäre, wenn ich sein Teleskop und die Astronomie in die Tonne trete – oder jemand anderem ‚anschnacke' – und in ihm stattdessen Interesse am ‚Stein der Weisen' wecke, zu welchem Thema ich schließlich gerade Schütts ‚Geschichte der Alchimie' gelesen habe, ein Buch, das sich dafür vortrefflich ausschlachten ließe. Man muss als guter Ökonom eben mit den Steinen bauen, die da sind.
Folglich redet der Udo meines Bremerhaven-Romans jetzt nicht mehr über ‚Gucki, den Mausbiber', sondern über die ‚prima materia'. Und für diese ‚prima materia' wiederum benötigt dieser angehende ‚Herr der Homunculi' unabdingbar jungfräuliche Knabenpisse, da ist sich die Forschung einig. Woher aber nehmen in einem Dorf vor den Toren Bremerhavens um 1975, wenn man selbst ‚schon was mit der Heidi Wolf hatte'? Udo sucht also jungfräuliches Knabenpipi anderswo, bei mir hat er auch kein Glück mehr, so fragt er dessenthalben diskret überall herum, wird dabei dem Dorf immer verdächtiger, und zwar nicht als Alchimist, sondern als potenzieller Knabenschänder. Welche Steilvorlage, um die gesamte Dorfgemeinschaft literarisch vorzuführen, um die Romanhandlung in moralische Wallung zu versetzen, während mein ahnungsloser Udo unten im Keller sein ‚Hen to Pan' destilliert, weil er den keuschen Nachbarssohn Renè überzeugen konnte, in Mutter Annelieses Milchkanne zu pinkeln.
Es ließen sich aber auch Quecksilbervergiftungen, Hausbrände oder ganz neue Hippie-Drogen aus dem hinzuerfundenen Aspekt der Alchimie literarisch destillieren. Wichtig ist immer eins: Wer als fiktionaler Lügenbaron wild verpuzzelte Charaktere aufs Papier wirft, der sollte über sie Buch führen. Wer glaubwürdig wirken will, muss widerspruchsfrei daherkommen. Heimito von Doderer breitete für seine Figuren und Romane kilometerlange Papierstreifen aus, um bei seinem eigenen Text auf dem Laufenden zu bleiben. Es geht auch schlichter – aber jeder Autor muss vor der Niederschrift über seine Figuren schon Bescheid wissen, woher sie ihre Narben haben, weshalb sie keinen Wackelpudding mögen, in welchen Fächern sie gut sind, ob sie im Stehen oder im Sitzen onanieren usw. Hierzu muss er das komplette Personal erst einmal erfinden. Allwissenheit ist also ein hartes Geschäft.
Sollten Blogger etwa so etwas auch tun? In bestimmten Fällen sicherlich – ich bin mir ziemlich sicher, dass der Thomas Knüwer alles weiß von seiner Tanja-Anja, dieser sprichwörtlich gewordenen Blogger-Kunstfigur einer PR- Tante aus ‚der kleinen Agentur am Rande der Stadt', sogar welche Kleider sie im Schrank hat. Oops – ich wusste es: „Mehr kann frau sich nicht leisten als Junior Consultant“, weiß Tanja-Anja. Und auch nicht mehr als einen Nadelstreifenanzug von Zara".