Die Phrase: Das schleichende Gift der Langeweile

Im Text entsteht Langeweile durch bestätigte Erwartungen. Nehmen wir den Fall einer Erzählung, wo nächtens ein schrecklicher Mord passierte, zwei Liebende sich unter dem Honigmond fanden oder wo es mir endlich gelang, durch einen furchtbaren Autounfall zwei Personen im regengetränkten Blaulichtgeflacker aus meinem Roman zu eliminieren. Weil ich längst nicht mehr wusste, wo hinaus mit ihnen. Literarisches Großreinemachen also.

Und dann? Dann, am Ende dieser Nacht, heißt es bei langweiligen Schreibern: „Die Sonne ging auf". Ja, so hättet ihr's gern: schwaches Verb, abgenudelte Phrase, euer Leser gähnt. Im Polizeibericht hieße es sogar unter Zuhilfenahme von substantiviertem Verb und (Plusquam)Perfekt: „Der Sonnenaufgang hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eingesetzt". So nicht! Sucht euch gefälligst eure eigenen Formulierungen – auch und gerade für die banalsten Vorgänge: Kein „Die Straßenbahn hielt an der Haltestelle"! Kein „Sie schaltete den Computer an"! Kein „Der Morgen war wieder kalt und frisch". 

Im obigen Fall vielleicht: „Die Sonne fuhr aus den Kissen der Nacht empor". Oder: „Klar, dass auch der Himmel erröten musste". Oder: „Der Morgen war spät dran". Oder: „Selbst Morgensonne haucht Wachsgesichtern kein Leben ein". Oder: „Eine fette, verquollene Pampelmuse, rot geschminkt, nur träge zum Klettern zu bewegen, schlich sich aus ihrem Versteck". Oder, oder, oder, oder … Die Möglichkeiten der Sprache sind unendlich, obwohl es nur 26 Buchstaben gibt. Wichtig ist es, aus einem Blickwinkel daherzukommen, mit dem der Leser nicht rechnen konnte – frei nach Lichtenbergs «großer Regel»: «Wenn an deinem Bißgen nichts Sonderbares ist, dann sag es zumindest ein bißgen sonderbar».

Wie überall liegt auch hier die Gefahr in der Übertreibung. Wir müssen lernen, «mit gewöhnlichen Worten ungewöhnliche Dinge zu sagen» (Schopenhauer). Wenn wir dagegen zu den Pretiosen und Juwelen der Sprache greifen, dann werden wir unweigerlich «manieristisch» und lächerlich: „Als die rosenfingrige Eos auf den blutigen Mordplatz mit den eifrig blitzlichternden Zerberi des Gesetzes schien …" – miauuww! Oder aber: „Diese stechende Morgensonne weckte bei Kommissarin Schnittke-Pflaumenberger die gewohnte Migräne und den Hass auf die Männer und ihre Gewalt …". Ob nun Altphilologe oder deutsche Krimiautorin – es kommt nie darauf an, bildungshuberisch unseren Wortschatz offenzulegen oder unser ideologisches Weltbild zu exponieren: Wir sollen eine Geschichte gut erzählen, die Ideologie ist dann schon Teil der Handlung. Und zwar in der Sprache des Alltags, aber fern vom Alltag. Zumindest sollten wir diesen Alltag in das Licht einer absolut ungewöhnlichen Morgensonne zu tauchen suchen, wie sie nur bei uns so zu finden ist …        

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