Wie zum Beispiel Peter Wippermann, Kommunikationsdesigner
und Gründer des Trendbüro Hamburg. Aus seiner Sicht stellt die WM einen
bedeutsamen Schritt in der Entwicklung der hiesigen „Entertainmentkultur“ dar:
„Das Publikum inszeniert sich selbst, und das ist ihm fast wichtiger als die
Show, die ihm geboten wird.“ Die WM als „aktives Mitmach-Theater“, bei dem sich
die Beteiligten, sprich die ausgelassen jubelnden Fußball-Fans in ihren
farbenfrohen Kostümierungen als Darsteller eines riesigen Medienspektakels
begreifen. Die medien-bewanderte „Internet-Generation“ sei es gewohnt, sich
aktiv in ein Geschehnis einzubringen und nicht nur passiv zu konsumieren.
Dabei-Sein bedeutet: Raus aus der trägen Konsumhaltung, rein ins mediale
Getümmel, mitgestalten und Spaß haben.
Ein „Event“, das die Menschen wirklich ansprechen und
emotional involvieren soll, muss Wippermann zufolge mindestens drei Kriterien
erfüllen: Das Ereignis muss erstens medialisierbar sein, vor allem via
Fernsehen, und einer Spannung verheißenden Dramaturgie folgen, wie es bei einem
sportlichen Wettkampf der Fall ist. Zweitens müssen sich die Zuschauer
einbringen können – und sei’s auch nur als euphorische Fans, die für die nötige
Stimmung sorgen. Und drittens sollte das Event international sein, damit es
globale Beachtung findet und wohl auch ausreichend bedeutsam erscheint.
Wippermann formuliert seine Einsichten fürs Event-Marketing,
das hauptsächlich von Markenartikel-Unternehmen, aber auch von Städten und
Regionen betrieben wird. Interessant ist jedoch die Fragen, wie sich die
Politik jetzt und in Zukunft der „WM 2006“ als Ereignis von historischer
Dimension bedienen wird.
Auf der politischen Bühne ist man sich von Anfang an im
Klaren darüber gewesen, welch einmalige Chance die WM bietet. Zum einen hat das
Mega-Ereignis ideale Bedingungen geschaffen, um Werbung für den Standort
Deutschland zu machen und sich als weltoffenes und freundliches Land zu
präsentieren. Das ist ohne Frage gelungen. Die friedlichen Multikulti-Partys
beim Public Viewing sprechen für sich. Zum anderen hat die WM aber noch eine
besondere Gelegenheit geboten, nämlich, den Fußball zu nutzen, um sich
kollektiv selbst zu inszenieren –und zwar in erster Linie den eigenen
Landsleuten gegenüber. Mit anderen Worten: Die WM kann durchaus als
aufregend-schönes Mitmach- und Selbsterfahrungs-Event begriffen werden, bei dem
jeder als Fan mitmischen konnte: Fahne schwenken, Nationalhymne aus voller
Kehle singen, Klinsis Mannen anfeuern, grölen, hupen, Party ohne Ende –
schwarzrotgoldene Glückseligkeit. So kann sich Deutschland also auch anfühlen.
Da sind bei dem einen oder anderen bestimmt patriotische Gefühle aufgekommen.
Wie immer die sich auch konkret äußern mögen.
Und hier sind wir wieder beim Event-Marketing. Diese
interaktionsnah ansetzende Werbestrategie zielt gemeinhin darauf, Identitäten
(von Marken zum Beispiel) erlebbar zu machen. Marken werden als Erlebniswelten
inszeniert, in die sich der moderne Konsument gleichsam hineinbegeben kann. Ihm
wird ein Erlebnisangebot unterbreitet, das ihn emotional ansprechen soll, um
ihn so zur aktiven Teilnahme zu bewegen. Denn „freiwilliges“ Mitmischen
involviert emotional, ist mit Spaß und Genuss verbunden und macht einen
empfänglicher für unterschwellige Werbebotschaften: die Markenversprechen.
Nun, was hat man sich unter Events eigentlich genau
vorzustellen? Befragen wir einen, der es wissen muss: Ronald Hitzler, seines
Zeichens Kultursoziologe und ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet:
„‚Events’ sollen heißen: Aus unserem spät-, post- bzw.
reflexiv-modernen Alltag herausgehobene, raum-zeitlich verdichtete,
performativ-interaktive Ereignisse mit hoher Anziehungskraft für relativ viele
Menschen. Diese Anziehungskraft resultiert wesentlich aus dem ‚Versprechen’
eines hohen, teilnehmerspezifisch vorangelegten, typischerweise verschiedene
Kulturformen übergreifenden Spaß-Erlebens. D. h., Events sind vor-produzierte
Gelegenheiten zur massenhaften Selbst-Inszenierung der Individuen auf der Suche
nach einem besonderen (und besonders interessanten) ‚eigenen Leben’.“
Schwer verdauliche Kost, zugegeben. Aber recht präzise
Worte. Denn sie treffen den entscheidenden Punkt. Das soziologisch Interessante
ist ja gerade, zu sehen, wie die erlebnishungrigen Bürgerinnen und Bürger die
WM für sich selbst genutzt haben. Sie haben sich ihre WM höchst selbst
erschaffen und eine Riesen-Party aus ihr gemacht. Sie haben das Sport-Ereignis
auf ihre Art „angeeignet“, mit Stimmung „gefüllt“ und zur kollektiven
Selbstberauschung werden lassen. Die WM war vielen willkommener Anlass, um
eigene Bedürfnisse nach Zerstreuung zu befriedigen und sich mal unbekümmert
auszuleben, abseits der lähmenden Alltagsroutinen und eventueller Sorgen und
Nöte. Einfach mal „deutsch“ sein, Flagge zeigen, sich selbst und die eigene
Nation feiern. Ganz ohne störende Hintergedanken, spontan aus dem Bauch heraus.
Massenhafter Ausbruch aus den Restriktionen des Alltags ist
der eine zentrale Aspekt, der zu beobachten war. Ein anderer ließe sich mit Gerhard Schulze identifizieren, einem weiteren Event-kundigen Kultursoziologen:
„In Ereignissen, deren Hauptsinn darin besteht, Erlebniswünsche zu bedienen,
begegnen die Menschen vor allem immer wieder sich selbst. Sie bestätigen sich
durch das Gewählte so, wie sie sind oder zu sein glauben.“ Dem ungezwungenen
Mitfeiern beim Mega-Event WM kommt folglich eine identitätsproduzierende und -verfestigende
Wirkung zu. Jeder einzelne hat sich entscheiden müssen: Wie stehe ich zu dem
ganzen Trara? Fahne am Auto oder über der Balkonbrüstung – ja oder nein? Die
Deutschen haben so ganz nebenbei, recht unverkrampft und in bester Feierlaune
ausgekundschaftet, wie viel Patriotismus sie sich denn leisten können, ohne
dass das Ausland stutzig wird, weil es nationalistische Tendenzen aufkeimen
sieht. Aber in der Hinsicht besteht sicherlich kein Anlass zur Besorgnis, liest
man die internationalen Pressestimmen, die durchweg wohlwollend und bestärkend
ausgefallen sind.
Wie reagiert nun die Politik auf die Fußballeuphorie?
Bestimmt war es von Anfang an politisches Kalkül, im allgemeinen Freudentaumel
während der WM ein paar „Reformen“ durch die Gremien und Institutionen zu
bringen, diese halbgaren Machwerke, die kaum jemanden überzeugen. Die
Föderalismusreform etwa. Die Gesundheitsreform oder die Verschärfungen bei
Hartz IV. Das Volk war ja abgelenkt. Oder hatte besseres zu tun, als das
großkoalitionäre Hickhack zu verfolgen.
Es bleibt abzuwarten, ob von politischer Seite aus versucht
wird, das Stimmungshoch im Lande aufrecht zu erhalten. Mit Hilfe
fadenscheiniger Appelle vielleicht, die wirkungslos bleiben dürften. Im Herbst
steht die nächste Reformwelle an. Und im Januar massive Steuer- und
Abgabenerhöhungen. Oh, oh – die Miesepetrigkeit wird das Land erneut befallen.
Dann wird es wieder als das wahrgenommen, was es ist: ein krisengeschüttelter
„Sanierungsfall“. Dem wird mit patriotischer Stimmung allein nicht abzuhelfen
sein. So viel steht fest. Vonnöten sind eine klare politische Linie, eine echte
Zukunftsvision und geballte politische Durchsetzungsmacht. Nicht jedoch
stümperhafte Flickschusterei.
Auf einer „Großbaustelle“ der letzten Jahre wird es in den
nächsten Monaten sehr betriebsam zugehen, nämlich bei der Debatte um das
nationale Selbstverständnis der Deutschen. Das „Volk“ hat während der WM von
sich aus Stellung bezogen und mehr als nur einen Fingerzeig gegeben, wie es
sich selbst begreift. Weder die unsägliche und viel gescholtene „Du bist
Deutschland“-Kampagne noch die hitzige Leitkultur-Debatte, die immer mal wieder
auflodert, haben auch nur im Ansatz ähnlich wichtige Selbsterkenntnisse zutage
fördern können. Dazu bedurfte es eines Events, dieses gigantischen
Mitmach-Theaters „Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land“. Und nicht billiger
PR-Aktionen zur Erzeugung eines Wir-Gefühls sowie abstrakter Diskurse über den
„deutschen“ Werte-Kanon.
Einfach mal „dem Volk aufs Maul schauen“ – und staunen, welch
vielfältige Facetten einer nationalen Identität sich da offenbaren.