Erst einmal herrscht das Wort. Um kurz nach sieben erklärt Peter Urban, das Urgestein unter den Radiomoderatoren des NDR, das Festival für eröffnet. Endlich. Großer Jubel bricht aus unter den vielen Tausand Anwesenden auf dem Spielbudenplatz, die es gar nicht mehr abwarten können, bis Tomte uns einheizen.
Doch zuerst führt Peter Urban eine Art Interview mit den beiden Geschäftsführen Alexander Schulz und Christian Gerlach sowie dem Konzertveranstalter Carsten Jahnke. Woher die Idee zu diesem Festival stamme, will er unter anderem von ihnen wissen.
Aus Austin/Texas. Da hätte die beiden Organisatoren vor Jahren schon ein ganz ähnliches Festivalkonzept kennen gelernt, und da sei die Idee geboren, so etwas auch einmal in Hamburg zu veranstalten. Vor sechs Jahren bereits hätten sie mit den Planungen begonnen. Die Reeperbahn mit ihrer langen Musiktradition hätte sich geradezu angeboten. Stimmt. Das lange Zeit vernachlässigte Schmuddelkind hat sich herausgeputzt. Nirgendwo anders gibt es eine so hohe Dichte an Clubs, nirgendwo passt ein derartiges Festival besser hin als hierher, mitten auf den Kiez. Das sieht Peter Urban genauso. Und der Ansicht dürften auch viele der Medienvertreter sein, der 300 Journalisten aus dem In- und Ausland, eine Zahl, die Peter Urban stolz verkündet. Was für ein Presseauftrieb! Und ich bin auch dabei. Toll!
Tschüss und viel Spaß, wünschen uns die vier Herren zum Schluss. Und dann ist es so weit. Tomte entern die Bühne, bestens gelaunt und – wie Frontmann Thees Uhlmann sogleich kundtut – hocherfreut darüber, das Festival eröffnen zu dürfen.
Bevor die ersten Töne erklingen, erzählt er uns eine persönliche Geschichte. Auf der Reeperbahn, über dem Crazy Jeans, das er von der Bühne aus da ganz weit hinten erahnen kann, habe er früher gewohnt. Wer hätte das gedacht?!
Dann steigt die Show. Ich höre gebannt zu. Tomte habe ich noch nicht im Konzert erlebt. Wäre eh kein Must für mich. Nicht mal mehr ein Kann-Konzert. Ehrlich gesagt.
Die ganze Zeit schon fotografiert Elke vor der Bühne, Schulter an Schulter und irgendwie bedrängt von ihren Kollegen. Foto- und Fernsehkameras sind dort vorne im Dauereinsatz. Aus wenigen Metern Entfernung beobachte ich vergnügt, wie man/frau sich ins Zeug legt, um gute Bilder zu produzieren.
Wie es aussieht, berichtet der NDR live fürs Hamburg Journal. Eine kurze Schalte, ein Stimmungsbericht von der Reeperbahn. Hektisch geht’s zu. Klar, es wird ja auch gearbeitet.
Ich bin von der schreibenden Zunft und lasse alles auf mich wirken. Rezeption in aller Ruhe, bloß keinen unnötigen Stress, dann gemächliche Reflexion des Erlebten, und beizeiten wird Text produziert. Die Ideen kommen beim Schreibprozess von ganz allein, die Erinnerung ist immer wach. Zwischendurch, in der Empiriephase, mache ich mir eher selten Notizen. Allerhöchstens Stichworte, Details, „verrückte“ Einfälle.
Ein geistig anregendes Getränk kann bei der „Arbeit“ eigentlich nie schaden. In der Rezeptionsphase zumindest nicht. Das lässt einen schnell entspannen, macht aufnahmebereit. Anfänglich. Will sagen: Ein Bier muss her – und zwar fix. Gut, dass die Presse-Lounge nur einen Steinwurf entfernt ist. Die ersten vier Tomte-Songs gehört zu haben reicht allemal. Fazit: ein mehr als gelungener Beginn, ein Auftakt nach Maß!
Ich nehme den Presseausgang und quetsche mich durch die Menschenmasse. In der Lounge treffe ich auf Elke, nicht unerwartet. Wir plaudern. Aber nur kurz. Sie muss weiter zum nächsten Gig. Im Docks.
Ich lasse mir am Tresen ein Carlsberg geben. Herrlich kalt, erfrischend limonadig – Plörre. Ich gehe wieder nach draußen, um Tomte zu lauschen. Gleich rein ins Pressezelt, das angenehm leer ist. Ich habe es fast für mich allein und genieße den freien Blick auf die Bühne. Außerhalb des Zelts sieht es da ganz anders aus. Voll ist es. Ringsum allerlei zusammengepferchte Körper. Da habe ich es hier schon besser.
Als die Smashing Pumpkins vor einigen Jahren (1998 muss es gewesen sein) an selber Stelle groß aufspielten, war es noch viel voller. Schätzungsweise 25.000 Menschen strömten auf den Kiez. Die Reeperbahn musste für den Fahrzeugverkehr komplett gesperrt werden. Was für ein Ereignis damals. Wie dankbar ich doch bin, es miterlebt zu haben.
Aber vielleicht sollte ich mich mit diesen Tomte gar nicht so lange aufhalten. Ich trinke aus und wandere rüber zum Docks. Mal etwas Unvertrautes checken. Clueso.
Als ich reinschneie, halten zwei Radiomoderatoren gerade eine kleine Begrüßungsansprache. N-JOY, der Jugend-Sender des NDR, überträgt live aus dem Docks, seit über zwei Jahren als D-Club firmierend.
Dann Clueso live on stage. Soul, Funk, Reggae, HipHop in ansprechender Manier vereint. Das Publikum ist gleich Feuer und Flamme. Könnte ein toller HipHop-Abend werden, hier im D-Club. Wenn nachher Arrested Development die Bühne stürmen, dann wird der Laden endgültig Kopf stehen. Davon ist auszugehen. Doch ich muss jetzt gehen, zu super700 im Grünspan.
Auf dem Weg nach draußen stoße ich auf Elke, die ihre Arbeit ruckzuck erledigt hat.
„Na, wie findest du die?“, will sie von mir wissen.
„Musikalisch durchaus überzeugend. Im Ganzen aber eher nicht so mein Ding.“
„Meins auch nicht“, merkt Elke an. Einen schönen Abend wünscht sie mir.
Dito.
Ich spüre, dass ich mir noch schnell ein weiteres Bier in der Presse-Lounge gönnen sollte. Kostet ja nix. Das nenne ich Service! Wir von der Presse sind halt wichtige Menschen. Man will uns gnädig stimmen, wohlwollend, damit wir ausführlich berichten und lobende Worte finden. So erhoffen es sich die Festival-Organisatoren, die einzelnen Veranstalter, alle Mithelfer, die vielen Volunteers. Und sicher auch die Sponsoren. Alle eigentlich, die sich mit Begeisterung am Festival beteiligen. Freunde, ihr könnt auf mich zählen.
Ein Prosit auf all diese Menschen! Ich nehme mehrere kräftige Schlucke hintereinander, und schon ist die Flasche Carlsberg mehr als halb leer. Meine Fresse, das Bier schmeckt aber heute. Langsam komme ich richtig auf Betriebstemperatur. Die brauche ich auch, um nun meine musikjournalistische Feldforschung beginnen zu können.
Flasche leer, Durst gelöst, Befindlichkeit bestens. In Windeseile geht’s zum Grünspan.
Die sehen etwas geknickt aus, die drei Sängerinnen dort auf der Bühne, schießt es mir durch den Kopf, als ich am Tresen Platz nehme. Könnte am dünngesäten Publikum liegen. 50, höchstens 60 Leute. Einige tanzen sogar. Schade, da hätten sich ruhig mehr Zuschauer von diesen Tomte-Langweilern losreißen sollen, um herzukommen. Denn die Musik von super700 ist echt klasse. Vor ein paar Monaten habe ich per Zufall einen Konzertmitschnitt im WDR Rockpalast gesehen, in den Schnipsel eines Interviews mit den drei Schwestern Ramadani, den Vokalistinnen dieses Berliner Septetts, eingestreut worden waren.
Die sind süß, die drei, und singen ganz bezaubernd. Ich bin schon nach den ersten Takten hingerissen. Die mittlere von denen hat es mir besonders angetan, die mit den kurzen Haaren und dem engen schwarzen Top. Aber das soll jetzt nicht weiter interessieren. Die Musik hat im Vordergrund zu stehen und sonst nichts! Schließlich will ich nicht meine „selfcontrol“ verlieren, von der die Lead-Sängerin in einem Song meint, sie sei nicht ihr Freund.
Ihre Musik besticht durch wunderschöne Melodien, sphärische Gesangspassagen, die auf komplexen Songstrukturen aufbauen. Ab und zu können sie es auch richtig krachen lassen. Tanzbar sind ihre Songs allemal. Die Leute, die zugegen sind, scheinen regelrechte Fans zu sein. Nach jedem Song wird kräftig geklatscht, gejubelt, gepfiffen. Begeistert kann man von ihnen in der Tat sein. Innerhalb der deutschen Musiklandschaft müssen ihre Stücke als eher ungewöhnlich eingestuft werden. Es gibt kaum Bands, die so klingen wie sie.
super700 haben mir gefallen, haben mir richtig gut gefallen, denke ich auf dem langen Fußmarsch zum Knust, wo bereits die Escapologists auf der Bühne stehen sollten. Schnell noch ein Becks am Neuen Pferdemarkt kaufen und den leckeren Gerstensaft herunterstürzen. Der Bierkonsum darf bei der Arbeit nicht zu kurz kommen. Der Abend ist noch lang, da muss man fit bleiben.
Nicht aber die Escapologists verzaubern gerade mit ihrer Musik das Knust, sondern Psapp, eine Formation aus London. Es hat eine Programmänderung gegeben. Macht nichts. Ist sogar von Vorteil. Seachange spielen erst gegen 23:00 Uhr auf. Anders als ursprünglich geplant, könnte ich mir Amusement Parks On Fire reinpfeifen. Na, spitzenmäßig!
Doch erst einmal lasse ich mich von diesem schönen eingängigen Avantgarde-Pop verzücken, der mit teilweise außergewöhnlicher Instrumentierung dahingezaubert wird. Viele der benutzten Zupf-, Schlag- und Blasinstrumente kenne ich gar nicht. Sind wohl Eigenerfindungen. Die vielschichtigen Klangwelten, die mit ihnen erschaffen werden, haben schon etwas Betörendes. Von der Bühne aus fließt ein ungeheurer Wärmestrom ins zur Hälfte gefüllte Knust. Seltsam: Nicht nur ihre Musik berührt einen sofort. Die zarten Stimmen der zwei Sängerinnen lullen einen ein, sorgen für eine überaus behagliche Atmosphäre. Hinzukommt, dass die beiden auch noch extrem sympathisch wirken. Sie reagieren auf Publikumsäußerungen, sie reden über einzelne Songs, führen ihre ungewöhnlichen Instrumente einzeln vor, sie scherzen, sie haben Spaß. Wir alle haben Spaß. Und ich bin einfach nur froh, die Band live zu sehen. Alles nur wegen der Programmänderung. Ansonsten hätte ich sie verpasst. Was wirklich schade gewesen wäre. So viel allgemeines Wohlbehagen haben in den letzten Jahren nur Bands und Ensembles aus Kanada bei ihren Konzerten erzeugen können. Broken Social Scene. Arcade Fire. Stars. Und immer war’s im Knust. Nicht ohne Grund ist das Knust mein Lieblings-Club.
Ich disponiere also um. Ich lasse das Escapologists-Konzert ausfallen und höre mir lieber Amusement Parks On Fire an. Im Molotow am Spielbudenplatz, einem schummrigen Kellerclub. Der Sprung von Psapp zu denen ist gewaltig. Vorher Harmonie pur, jetzt Brett. Laute Gitarren. Verspielt-melodiöser, sphärischer Alternative Rock.
Es ist kurz nach zehn. Ich schwitze wie Sau. Zum einen, weil ich den Weg vom Knust hierher in lockerem Trab hinter mich gebracht habe. Zum anderen, weil im Molotow Saunatemperaturen herrschen. Wie immer eigentlich, wenn es richtig voll ist. Gut, dass ich mir zuvor noch schnell ein kühles Astra aus der Presse-Lounge geholt habe. Das tut jetzt richtig gut.
Hhm, diese Briten wollen mir nicht so richtig zusagen. Laut sind sie. Die können Tote zum Leben erwecken. Aber der Sound ist mir zu breiig, undifferenziert. Da ist nur Lärm. Nicht so richtig genießbar. Mag von CD ganz anders sein, viel klarer. Bestimmt. Das Molotow hat eh eine „schwierige“ Akustik. Je lauter die Band, desto problematischer wird’s.
Ich steige aus. Ist besser so. Außerdem sind Seachange eindeutig vorzuziehen. Nach einem dringenden Zwischenstopp auf dem Klo, lechze ich nach mehr Bier. Aber im Hörsaal hat man den die Presse-Lounge für heute dichtgemacht. Getränke jetzt nur noch zum regulären Preis, meint das Barmädchen freundlich lächelnd zu mir. Nee, muss nicht sein. Das kann ich billiger haben. Und hier trinken wollte ich es eigentlich auch nicht. Ich bin in Eile. Als Kiezianer weiß ich natürlich, wo ich mir unterwegs auf die Schnelle ein Becks besorgen kann: im Kiosk neben dem Jolly Roger, St. Pauli-Fans bestens bekannt. So eine wohltuende Marschverpflegung muss sein. Die hält glatt vor bis zum Knust.