Verlassene Häuser, überwuchert von Gras und Efeu! Wenn die Sonne über Houtouwan aufgeht, lässt einen das Gefühl nicht los, dass hier etwas Schlimmes passiert sein muss. Um die sogenannten „Lost Places“ ist ein wahrer Hype entstanden. Doch was hat es mit dem Trend und vor allem mit dem geheimnisvollen Ort Hotouwan auf sich?
Das chinesische Houtouwan: Wo sich die Natur zurückholt, was ihr gehört
„Das grüne Dorf“ – selten dürfte ein Beiname derart passend gewesen sein. Auf der chinesischen Insel Shengshan, unmittelbar vor der Küste Shanghais, hat die Natur wieder das Ruder übernommen. Noch vor drei Jahrzehnten lebten allein im Dorf Houtouwan mehr als 2.000 Fischer mit ihren Familien. Es war eng, laut und hektisch. Heute ist nur noch das Rauschen des Meeres zu hören. Das türkisfarbene Wasser der Bucht, auf der jeden Morgen und Abend eine behäbige Nebelschicht ruht, ist nach wie vor Eintrittstor zu Houtouwan. Als hätte der Efeu sie verschluckt, sind die Häuser des einstigen Fischerdorfes von Weitem kaum als solche zu erkennen. Setzt man schließlich einen Fuß auf die Insel, wirkt alles wie aus einem Endzeitfilm: verfallene Gebäude, zugewachsene Straßen und unheimliche Stille. Houtouwan ist ohne Zweifel ein Geisterdorf mit Gänsehautfaktor.
Warum stand das Dorf plötzlich leer?
Aber es war kein Super-Virus, keine Naturkatastrophe, die die Bewohner von Houtouwan in die Flucht getrieben hat. Es war ihre wirtschaftliche Notlage. Bis in die frühen Neunziger stellte der Fischfang auf der Insel Shengshan ein rentables Geschäft dar. Der Fluss Jangtse mit seiner Artenvielfalt bot den Männern ein sicheres Einkommen, der Fischfang boomte. Doch dann drehte sich der Wind: Nach und nach verließen die Fischer Houtouwan wieder. Erst gingen die reichen Familien, die es sich leisten konnten, einfach aufs Festland zu ziehen. Die schlechter situierten blieben – zu sehr waren sie auf die Erträge aus der Fischerei angewiesen. Irgendwann sahen auch sie sich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.
Das große Schweigen über die genauen Gründe
Die genauen Gründe für den großen Exitus sind unklar. Vielleicht, weil man hier in China nicht gern darüber redet. Denn als gesichert gilt, dass der Jangtse einer der dreckigsten Flüsse der Welt ist, hier landet der Müll der Meganation China. Die Belastung durch Schwermetalle und Plastikmüll ist groß. Außerdem sind am Oberlauf zu viele Staudämme entstanden, die den natürlichen Fluss des Wassers und damit auch das Ökosystem behindern.
Verschmutzung und Verstopfung haben zu einer unaufhaltbaren Entwicklung geführt: Das Biosystem steht vor dem Zusammenbruch. Von früher fast 150 Fischarten leben heute weniger als 20 im Jangtse. Wer mit der Fischerei seinen Lebensunterhalt verdient, ist also gut beraten, sich andere Gewässer zu suchen.
Mit den Fischen starb auch das Leben in Houtouwan. Doch kurz nachdem der Mensch gegangen war, kam die Natur zurück. Rasch hatten – unterstützt vom feuchten Klima – Efeu und Farne die ersten Hausfassaden bedeckt. Mittlerweile sind nahezu alle Bauwerke in Houtouwan „begrünt“. Das Dorf auf der Insel Shengshan dürfte damit wohl das ungewöhnlichste Naherholungsgebiet Chinas sein. Hier gibt es nichts: keine Restaurants, keine Hotels – und trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, strömen die Touristen scharenweise.
Naherholungsgebiet mit Kuriositäten
Houtouwan ist ein Touristenmagnet ohne Sehenswürdigkeiten. Die meisten Besucher kommen aus dem lauten und hektischen Shanghai hierher und finden neben allerhand Fotomotiven auch etwas Ruhe. Krasser könnten die Gegensätze kaum sein. Auf der einen Seite eine pulsierende Mega-Metropole, auf der anderen Seite Ruhe und Urwald.
Auf Hotouwan gibt es allerhand bizarre Szenen zu entdecken: Ein altes Bad mit zwei Waschbecken zum Beispiel. Die Fliesen bröckeln, aus dem Fenster ohne Scheibe fällt der Blick über die Bucht des Ortes. Ein Traum-Ausblick; aber ohne Bewohner, die ihn genießen könnten. Die Dächer der Häuser sind zu Wanderpfaden geworden. Besucher stolzieren auf den von Efeu umrankten Gebäuden umher als würden sie schweben. Doch nicht nur von außen ist Houtouwan ein einzigartiges Spektakel. In manchen Häuser stehen sogar noch Möbel: ein massives Bettgestell aus Holz zum Beispiel.
Anreise nach Shengshan: Besser mit Chinesisch-Kenntnissen
Die meisten Touristen sind Chinesen. Houtouwan ist nicht einfach zu erreichen. Zwei Fähren sind nötig, um hierhinzugelangen. Erst eine Fähre bis zur Hauptinsel der Inselgruppe, zu der Shengshan gehört, dann ein kleines Boot, das die Passagiere nach Shengshan bringt. Die Fähren verkehren zwar regelmäßig. Die Englischkenntnisse unter den Einheimischen nehmen dafür mit zunehmender Distanz zum Festland ab. Da das touristische Potenzial der Insel aber kein Geheimnis mehr ist, gibt es mittlerweile eine Handvoll geführter Touren in englischer Sprache.
Verfall ist hip
Vergessene und verlassene Orte übten schon immer Faszination auf die Menschen aus. Heute ist um die Lost Places, also verlassene Städte, ein regelrechter Hype entstanden. Die Urban-Explorer, Urbexer genannt, nutzen solche Hinweise für ihre Touren an verlassene Orte. Besonders Fotografen gefällt der morbide Charme der aufgegebenen Stätten. Zu den Highlights in Deutschland gehören:
- Die Beelitzer Heilstätten: Sie waren einst eine Vorzeigeklinik für Tuberkulose-Patienten. Ab dem Zweiten Weltkrieg nutzte die Sowjetarmee die Klinik in der Nähe von Potsdam als Militärkrankenhaus. Seit 1994 steht die Anlage leer und verfällt. Ein Kunstprojekt soll der verlassenen Stätte neues Leben einhauchen.
- Die Villa von Anna L.: Diese Ruine in Nordhessen ist regelrecht überlaufen. Kaum ein Tag, an dem sich hier nicht zahlreiche Urbexer fast auf die Füße treten. Kein Wunder, denn in der einstigen Arztpraxis stehen noch immer Behandlungsstuhl, Reagenzgläser und eine alte Garderobe mit Kleidungsstücken.
- Die alte Hermes-Papierfabrik in Düsseldorf: Ein riesiges Areal mit zahlreichen leer stehenden Lagerhallen, die Überbleibsel der einst fruchtbaren Zeiten der hiesigen Papierherstellung.
Warum die menschenleeren Gebäude stehenbleiben
Dass ein Ort zum Lost Place wird, kann viele Gründe haben, wirtschaftliche Notlagen wie in Houtouwan oder dramatische Katastrophen wie in Tschernobyl. Doch warum werden die Gebäude nicht abgerissen, nachdem die Menschen gegangen sind? Manchmal ist ein Abriss zu riskant wie nach einer Reaktorkatastrophe, in einigen Fällen ist er schlichtweg zu teuer. Und in wieder anderen Fällen bleiben die Gebäude einfach leer stehen, und niemand weiß genau, warum.
Die Frage, warum ein Gebäude eine Ruine wird und bleibt, ist Teil der Faszination, die die Lost Places ausüben. Manche vermuten sogar übernatürliche Vorgänge: Geister hätten die Menschen vertrieben und hielten sie nun von der Rückkehr ab, lautet eine eher waghalsige Erklärung für die Lost Places.
Die Faszination vergessener Orte
Spukgeschichten hin oder her: Plätze, die langsam verkommen, lassen die Fantasie blühen. Wie mag man hier einmal gelebt haben? Vorstellungen darüber breiten sich automatisch beim Ansehen solcher Orte im Kopf aus. Sei es auf Fotos, Videos oder in Wirklichkeit – den Betrachter sucht ein Gefühl heim, das schwer zu beschreiben ist. Fast kann man es nostalgisch nennen, auch wenn man selbst nie an diesen Orten war, geschweige denn dort gelebt hat.
Ob Houtouwan, Beelitzer Heilstätten oder Hermes-Papierfabrik: An diesen Orten herrschte einst geschäftiges Treiben. Heute zeugt jeder Zentimeter davon, wie vergänglich alles im Leben ist. Es ist die Ahnung von etwas Dagewesenem, das nie mehr zurückkommen wird.
In Houtouwan hausen immer noch ein paar arme Familien in den Ruinen. Aber selbst sie sind sich sicher: Nach Houtouwan wird niemals Leben zurückkehren. Menschliches zumindest. Denn die Natur gedeiht hier prächtig. Und erobert sich das zurück, was einst schon einmal ihr gehörte.
Bildquelle: Pixabay, 725796, JordyMeow