So unwahrscheinlich wie unmöglich: Wer das noch nie erlebt hat, der kriegt kein Eis – weil er nämlich lügt! Der wäre ein Treppenwitzbold gar, wie Sie gleich sehen werden! Die Situation ist folgende: Gerade noch blieb einem jede Schlagfertigkeit im Halse stecken, gerade noch saß man verbal wie kognitiv in der selbstverpassten Maulkorbklemme und den eigenen Äußerungen fehlte es an Esprit! Guten Pointen! Eloquenz! Witz! Doch kaum ist die Tür des Personalbüros hinter uns ins Schloss gefallen, kaum ist der Telefonhörer aufgelegt, kaum hat sich der der attraktive Kollege von schräg gegenüber erhoben und den Raum verlassen: Schon trifft uns die perfekte Schlagfertigkeit wie der Blitz, überfällt uns aus der Tiefe unseres Unbewussten die formvollendete Äußerung des Jahrtausends, in all ihrem bestechenden Wortwitz, in all ihrem Charme; und plötzlich haben wir es rhetorisch wieder faustdick hinter den Ohren. Jedenfalls meinen wir das.
Was ist ein Treppenwitz?
Zunächst: Es muss es sich dabei noch nicht einmal zwangsläufig um einen ordinären Witz handeln. Zumindest nicht im Sinne des phänomenalen Brüllers oder Schenkelklopfers. Vielmehr ist hier eine geistreiche Idee gemeint. Ein origineller Einfall, an dem vermutlich auch andere Menschen Gefallen fänden. So sie denn je von ihm erführen! Denn hier kommt der Wermutstropfen: Der Treppenwitz hat per se ein Timing-Problem, da er per definitionem zu spät (in den Sinn/auf die Zunge) kommt. Zumindest der ursprünglich gemeinte Adressat wird ihn in der Regel also nie erfahren. Allein deshalb haben wir es hier mit einer vertrackten Angelegenheit zu tun. Während wir (aus heiterem Himmel) Treppengewitzten uns nämlich noch an der eigenen Genialität und Wortgewandtheit erfreuen dürfen, ärgern wir uns im selben Moment geradezu ein Loch ins Knie: Denn die schlagfertige Antwort kommt leider zu spät. Und die eigene Schlagfertigkeit macht uns auf einen Schlag fertig.
Zur Begriffsentstehung
Schauen wir uns die Entstehung des Begriffs etwas näher an, stellen wir fest: Irrwitzigerweise hat der Ausdruck, seit er im 18. Jahrhundert zuerst dokumentiert wurde, zahlreiche Bedeutungsverwandlungen durchlebt. Einige neue Konnotationen wurden hinzugefügt, andere verschwanden: Das Phänomen hat sich im Laufe der Jahrhunderte quasi selbst gewitzt! Mit der obigen Situationsbeschreibung sind wir im Übrigen ziemlich nahe an der Ursprungsidee der heute so gängigen (und doch oft so unterschiedlich verwendeten) Metapher. So bezeichnete Mitte des 18. Jahrhunderts der französische Aufklärer Denis Diderots das Moment der verzögerten Schlagfertigkeit nach Verlassen einer bürgerlichen Debattiergesellschaft als „l'esprit de l'escalier“ und meinte damit exakt jenes (haarscharf!) zu späte Ereiltwerden durch einen geistreichen Gedanken, perfiderweise noch im Treppenhaus, noch beim Hinuntersteigen der Treppen. Dort jedoch gab es kein applaudierendes Publikum. Das war das ganze Drama.
Der Treppenwitz der Geschichte
In Abweichung der ursprünglichen Definition wird der Terminus heute oft verwendet, um zu betonen, dass ein Umstand besonders „ironisch“ oder „irgendwie absurd“ erscheint. Insbesondere im Hinblick auf gesellschaftliche Prozesse und geschichtliche Veränderungen, die im Nachhinein als „Ironie des Schicksals“ gedeutet werden können, fällt mitunter salopp dieser Ausdruck. Scheint es mitunter doch so, als kommentiere die Geschichte sich selbst ironisch, einfach dadurch, dass sie so und nicht anders verläuft.
Dabei hatte die Redewendung ursprünglich eine etwas andere Bedeutung: Der Engländer Lewis Herslet verwendete ihn 1882 im Titel seines Bestsellers „Der Treppenwitz der Weltgeschichte“. In Anspielung auf Diderot beschäftigte er sich in seinem Buch mit dem Phänomen, dass historische Ereignisse im Nachhinein von den Beteiligten oft uminterpretiert werden. So sei der Augenblick im Treppenhaus, wo man vom Geistesblitz ereilt und zugleich von der Schmach der verpassten (verbalen) Revanche gepeinigt wird, vergleichbar mit jener Schwelle, an der auf historischer Ebene ein peinigendes kollektives Erlebnis im wahrsten Sinne des Wortes zur „Geschichte“ wird. Spannend wird es laut Herslet nämlich, sobald gesellschaftliche Kränkungen und Irritationen ins Spiel kommen. Überall, wo solchermaßen Geschichte geschrieben wird, werden zugleich denn auch buchstäblich „Geschichten“ geschrieben. Etwas plakativ könnte man sagen: Was nicht passt, wird (fabulierend) passend gemacht. Um etwa die verwirrende Schmach einer wirtschaftlichen oder kriegerischen Niederlage vertretbar und überhaupt erst nachvollziehbar zu machen, kommt es im Nachhinein solcher Ereignisse oft zu einer Rekonstruktion und Neuinterpretation. Historische Beispiele finden sich dafür zur Genüge. Herslet beschreibt und analysiert sie in seinem Bestseller.
Der Bestseller-Titel wurde zum geflügelten Wort
Und Herslet war gewieft: Statt den Titel seines Buches nämlich im Plural zu verfassen, übertitelte er seine Überlegungen einfach statisch im Singular und postulierte damit ein Prinzip, dass als geflügeltes Wort über Jahrhunderte und bis in die Gegenwart hinein überlebte. Wenn es heute auch in den unterschiedlichsten Kontexten verwendet wird. Aber so ist eben der Lauf der Geschichte / des Treppenwitz / der Geschichte / des Treppenwitz / naja u.s.w. / Sie wissen schon.
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