Der jüngst verstorbene Walter Kempowski ist in seinem uferlosen Sammelwahn nur ein besonders extremes Beispiel für das Grasen auf den primären Weideflächen des Schriftstellers. Aber auch nach Heimito von Doderers ‚Dämonen‘ lässt sich in Wien mit der Straßenbahn fahren, und wenn der im Roman an einer beliebigen Straßenecke ein Schild klappern lässt, dann hing das 1930 auch dort. In Dublin laufen ganze Touristengruppen auf den Spuren des ‚Ulysses‘ durch die Stadt, Alfred Döblin plünderte die Berliner Zeitungen und Adressbücher, ebenso wie Hans Fallada. Nur Ernest Hemingway bekam in seinem Suff wie immer alles durcheinander, auch wenn seine Details im Detail schon stimmen. Nur fanden sie sich meist an einem anderen Ort.
Niemand also kann aus seiner Vorstellungskraft allein eine hanseatische Senatorenfamilie um 1830 literarisch erstehen lassen. Was erst einmal eine dumme Sache ist, weil das Jahr 1830 schon lange vorbei ist. Auch die Lektüre von Thomas Mann hilft uns nicht sonderlich weiter, wenn wir nicht als Thomas-Mann-Epigonen verschrien werden wollen. Glücklicherweise aber gibt es die Historie: Hier wurde alles ohne literarische Ambitionen zusammengetragen, wessen wir bedürfen: alte Tagebücher, Akten, Kontobücher. Die Geschichtswissenschaft ist eine einzige Fundgrube, die dazu noch den Vorteil bietet, dass ein Normalmensch uns den ‚Detailklau‘ kaum jemals nachweisen wird, weil niemand solche Bücher noch kennt.
Auf die ‚Senatorens‘ angewandt: Wenn wir Gabriele Hoffmanns verdienstvolle Biographie über das Hamburger Hugenottengeschlecht der Godeffroys zu Rate ziehen, dann lernen wir den korrekten Einsatz der Partikel ‚man‘ – ‚Das tut man nicht‘, ‚Das sagt man so in der Stadt‘ – wir lernen Fleetenkieker kennen, die im Schlamm der Gräben hinter den Häusern nach Wertvollem stochern, der Aufbau der Lagerhäuser wird uns klar, der Wert einer ‚Bankomark‘, wir lernen die geheime Welt der Dienstboten kennen, bis hin zur Serviertreppe hinter der Doppelwand des Speisesaals – auf 600 Seiten genug Details, um drei dicke Romane historisch so farbecht zu tünchen, dass wir auf Zeitgenossenschaft Anspruch erheben dürften. Dazu stelle man sich weitere zehn Bücher dieses Kalibers vor.
Welche Fülle von Anknüpfungspunkten für jede Art Story: Wenn der Fleetenkieker den wutentbrannt fortgeworfenen Verlobungsring im Ebbschlamm wiederfindet, wenn eine Leiche fachgerecht über das Krangeschirr des Lagerhauses entsorgt werden muss, wenn im Alter des zahnlos gewordenen Senators der „Mahagony Lenstuhl zur Comodität mit Pferdehaaren und catunenem Überzug und zinnernem Topf" angeschafft werden muss.
Anders ausgedrückt: Im Großen und Ganzen sind wir als Autoren frei, frei also in der Handlung, aber nie im Detail. Hier kommt alles auf die Auswahl an, die erst eine glaubhafte Atmosphäre erzeugt. Eine Senatorentochter, die so daherreden würde wie eine Disco-Schnepfe von heute, überzeugt höchstens telenovelamäßig. Nur die Trottel also …
Details kann man nicht erfinden, das ist gut beobachtet. Mir fiel dabei auf, dass es (gute) Literatur gibt, die bewusst komplett darauf verzichtet. Peter Bichsels Kindergeschichten etwa: ein Mann heißt dort „ein Mann“. Ein Tisch ist ein Tisch und ein Stuhl ein Stuhl und eben nicht ein „Mahagony Lenstuhl zur Comodität mit Pferdehaaren und catunenem Überzug und zinnernem Topf“. Das erzeugt eine ganz andere, aber ebenso glaubhafte Atmosphäre bzw. einen Freiraum für Imagination: Jeder stellt sich den Mann, den Tisch und den Stuhl wohl komplett anders vor. (Nur so am Rande bemerkt, weil’s mir gerade auffällt.)
Vor allem der ‚Märchenton‘ verfährt so. ‚Der Wald‘ ist immer der gleiche Wald, ‚der Wolf‘ ist immer der gleiche Wolf. Daher auch der bestimmte Artikel: Es heißt nie‘ EIN Wolf lief durch EINEN dunklen Wald und hatte Hunger …‘ – es heißt: DER Wolf lief durch DEN dunklen Wald und hatte Hunger …‘.