Aller Anfang ist anders

Wie bei jedem, der ernsthaft schreibt, steht auch bei mir das Regal voll mit Büchern, die sich mit dem Schreiben befassen, darunter viele aus der amerikanischen Creative-Writing-Bewegung. Aus ihnen lernt man wirklich viel über den Aufbau von Spannungsbögen, über die Entwicklung von Figuren, über das Schüren von Konflikten oder über Dialogtechniken. Zum Beispiel aus dem Buch von Sol Stein («Über das Schreiben» / bei Zweitausendeins), der einer der bedeutendsten amerikanischen Lektoren und zugleich der „elder statesman" des Creative Writing ist. 

Dennoch – manchen Rezepten sollten wir besser nicht allzu wörtlich glauben. So schreibt Stein, dass die Kürze und Güte des ersten Satzes entscheide, ob der Leser bei der Stange bleibe (ähnlich wie dies unsere Direct-Mailing-Päpste übrigens auch behaupten). Und Stein fügt gleich einige überzeugende Beispiele an: «Sie hätte auf ihren Liebhaber warten können» (das ist von Graham Greene und verspricht – hoho! – unerlaubten Sex gleich im ersten Satz); «Ich hätte Mutter am liebsten erwürgt, aber dazu hätte ich sie anfassen müssen» (Loretta Hudson, waschechte Mordphantasien und Konflikt von Anfang an) oder «„Du darfst niemandem verraten", sagte Mutter, „was ich dir jetzt erzählen werde"» (Maxine Kingston, solch verschwörerisches Mystery-Geschwurbel und Ins-Geheimnis-Ziehen wirkt bekanntlich immer).

Nun sind die Autoren, die Sol Stein anführt, bis auf Graham Greene alles doch eher regionale Größen, die außerhalb der USA kaum jemand kennt. Ich machte daher die Probe aufs Exempel, ging ans Bücherregal und zog an zwei wirklich «großen Amerikanern»: 

„Von kurz nach zwei Uhr an bis fast zum Sonnenuntergang des langen regungslos heißen todmatten Septembernachmittags saßen sie in dem, was Miss Coldfield immer noch das Büro nannte, weil ihr Vater es so genannt hatte – ein düster stickig heißes Zimmer, dessen Fensterläden seit dreiundvierzig Sommern fest geschlossen waren, weil irgend jemand, als sie ein junges Mädchen war, geglaubt hatte, dass Licht und Zugluft Hitze hereinbrächten und Dunkelheit immer kühler wäre, und in das nun (da die Sonnenstrahlen voller und voller diese Hauswand trafen) gitterartige Lichtstreifen gelbleuchtenden Staubs fielen, die Quentin so erschienen als hätte ein Wind Atome der uralten trocken abblätternden Farbe der Läden hereingeblasen.» ( William Faulkner: Absalom, Absalom! – erster Satz).

Kann ja ein Ausreißer sein. Vielleicht lieber etwas Moderneres? «Schneebälle haben ihre Bahn gezogen, die Wände von Nebengebäuden ebenso wie Vettern und Basen besternt und Hüte in den frischen Wind von Delaware geschleudert – nun schafft man die Schlitten unter Dach, trocknet und fettet sorglich ihre Kufen, stellt Schuhe im hinteren Flur ab und fällt strümpfig in die große Küche ein, die von früh an in planvollem Aufruhr, untermalt vom Deckelgeklirr verschiedener Pfannen und Schmortöpfe, duftend von Küchengewürz, geschälten Früchten, Nierenfett, erhitztem Zucker – und nachdem die Kinder, in fortwährender Unrast, zum rhythmischen Geklatsch von Teig und Löffel, alles Erdenkliche erschmeichelt und stiebitzt, begeben sie sich, wie den ganzen verschneiten Advent lang an jedem Nachmittag, in ein behagliches Zimmer im hinteren Teil des Hauses, das schon seit zwei Jahren ihrem unbekümmerten Ansturm überlassen.» (Thomas Pynchon: Mason & Dixon – erster Satz). 

Ist das nun Zufall? Nein. Ich glaube, es sind einfach nur zwei verschiedene Zielgruppen: Wer darauf aus ist, Gebrauchsliteratur zu schreiben, wer also auf Rosamunde Pilchers Spuren wandelt oder den «Medicus» bewundert, der mag sich an die bestseller-gemäßen Pony-Tricks des Creative Writing halten. Wer dagegen die «Champions Liga» liebt, der wird dort kaum etwas von dem wieder finden, was das Creative Writing predigt. Was liefert uns William „Ronaldino" Faulkner nicht alles in seinem ersten nur scheinbar leblosen Satz? Den Süden, den Verfall, den Aberglauben, den Stillstand der Zeit seit 43 Jahren, eine waschechte, unverheiratete Hauptperson namens Coldfield und mit dem Monat September auch noch jene Jahreszeit, wo der Erzähler die Ernte endlich einfahren kann. So schreibt nur ein Meister. 

Creative Writing ist also geeignet, um die Anfangsgründe alles Schreibens zu lernen. Später, wenn jemand denn so weit kommt, benötigt ein guter Schreiber diese Stützräder nicht mehr. Er schreibt dann so, wie's ihn überkommt …    

4 Meinungen

  1. Natuerlich haben die (Lehr-)Buecher ihre Daseinsberechtigung und oft sind die Hinweise und Regeln fuer dieses Handwerk durchaus richtig und brauchbar. Doch jede Geschichte ist individuell und will auch individuell erzaehlt werden. Jeder Autor sucht seinen Stil, der ihn von der breiten Masse abhebt, aber doch eine moeglichst grosse Masse an Lesern anzieht. Ein erfahrener Autor mag sich durchaus sagen, ‚Lerne die Regeln und breche sie‘. Dem unerfahrenen Autor sei trotzdem ans Herz gelegt: ‚Lerne zunaechst die Regeln‘.Der erste Satz eines Textes ist sicherlich der, der sowohl vom Autor, als auch vom Lektor und den spaeteren potentiellen Lesern in der Buchhandlung, am kritischsten beaeugt wird, und oftmals fuer die Akzeptanz entscheidend ist.Somit sollte ihm eine gewisse Aufmerksamkeit zukommen – doch oft ist es notwendig, Regeln zu brechen, um ein Ziel zu erreichen und der Zweck heiligt die Mittel.-m*sh-

  2. Knappheit wird eh überschätzt, und von Leuten wie Stuckrad-Barre und Co. dann auch noch übertrieben. Das nervt. Und stört. Den Lesefluss.

  3. Der Griff zu Substantiv und Verb ist die Rettung derer, die nichts mehr zu sagen wissen. Ein zusammenhangfreier Minimalsatz – „Draußen bellte ein Hund“ – bringt jeden steckengebliebenen Texterkarren zuverlässig wieder in Schwung. Das sage jetzt nicht ich, das sagt der Stephen King – bekanntlich kein ganz Unbekannter im Buchstabengenre.@sha-mash: Regeln sind dazu da, sie zu brechen. Aber erst dann, wenn man sie beherrscht. 😉

  4. @jarchow-klaus:ich schrieb ja

    Ein erfahrener Autor mag sich durchaus sagen, ‚Lerne die Regeln und breche sie‘. Dem unerfahrenen Autor sei trotzdem ans Herz gelegt: ‚Lerne zunaechst die Regeln‘.

    -m*sh-

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