Das deutsche Verb zerfällt in zwei Bestandteile, wenn es ins Passiv, ins Perfekt oder ins Futur gerät: «Es ist dann ins Perfekt oder Futur geraten» oder aber «der ganze Satz wurde durch die Anwendung des Passivs höchst bürokratisch ausgestaltet». Das wäre alles noch nicht weiter schlimm – andere Sprachen kennen das Problem ja auch. Der deutsche Satz aber platziert konsequent den sinntragenden Bestandteil des «Handlungswortes» an das Ende seiner Girlanden: «Dann ist das Verb, das uns die Handlung des Satzes durch diese höchst deutsche Eigenschaft erst ganz zum Schluss zu verkünden wagt, in seiner geheimnistuerischen Art natürlich auch ganz ans Ende des Satzes geraten.»
Anders ausgedrückt: Der deutsche Satz, wenn’s um Zukunft oder Vergangenheit geht, leidet oft unter einer «verbalen Maulsperre». In den Worten des amerikanischen Humoristen Mark Twain, in seinem bekannten Exkurs über die «schreckliche deutsche Sprache»: «Wenn der deutsche Schriftsteller in seinen Satz eintaucht, dann hat man ihn die längste Zeit gesehen, bis er am anderen Ende des Ozeans auftaucht, mit dem Verb im Maul.»
Weil die deutsche Sprache mit dem Eigentlichen, mit der Handlung eines Satzes, bis zum Schluss hinter dem Berg zu halten pflegt, verzweifeln Übersetzer oft. Der britische Sergeant Norman Kirby, der am 8. Mai 1945 als Dolmetscher zu den Waffenstillstandsverhandlungen nach Flensburg einflog, beklagt sich in seinen Memoiren (Echolot, 1945, 421): «Wenn die Menschen Englisch oder Französisch sprechen, versteht man, was sie sagen, während sie es aussprechen. Wenn Leute Deutsch sprechen, weiß man, ehe sie fertig sind, nicht, was sie sagen. Die Antwort Feldmarschall Keitels lautete ungefähr so: ‚Ich Ihnen, für diese Kapitulationsbedingungen enthaltende, als Sicherheit gebrauchte Dokument die Nachricht davon, die mir übermittelte aus General Eisenhowers Hauptquartier von dem dorthingesandten General Jodl heute morgen, Dank’». Wir sehen, der deutsche Satz verlangt Lesern und Zuhörern einiges an Gedächtnisleistung ab – denn die müssen sich den ganzen Gallimatthias merken, bis ganz zum Schluss erst die Auflösung erfolgt.
Weil die deutsche Sprache an diesem Geburtsfehler krankt, werden auch jene Besonderheiten verständlicher, die uns als „Ausländerdeutsch“ aufstoßen: «Ich habe bekommen einen Pass», sagt jemand, der in einer anderen Sprache aufgewachsen ist. Denn das Beisammenhalten von Hilfsverb und Verb – das ist international die Regel. Die deutsche Sprache dagegen erzwingt die Trennung und den Klammergriff ums Satzobjekt: «Ich habe einen Pass bekommen». Ironisch ausgedrückt: Nicht der Ausländer spricht falsch, die deutsche Sprache spricht falsch.
Was ist zu tun? Nun, einerseits sollten wir uns angewöhnen, Hilfsverb und Verb immer möglichst nahe beisammen zu halten, um unsere Sätze nicht zu nudeln wie eine Mastgans. Zweitens ist auch das Imperfekt eine perfekte Möglichkeit, in der Vergangenheitsform zu sprechen und trotzdem verständlich zu bleiben: „Schon immer beschwor der Schriftsteller den raunenden Imperfekt“. Er hat ihn aber nur selten beschworen. Und drittens gibt es die Möglichkeit des historischen Präsens. Wenn die Zeit der Handlung klar ist, dann dürfen wir auch Vergangenes in der Gegenwartsform schildern: «Im November 1918 ruft Philipp Scheidemann die deutsche Republik aus».
Manche mögen jetzt sagen, das alles sei fürs Bloggen absolut uninteressant. Soso: „Hierzu werden zunächst techniksoziologische Sichtweisen auf Technik als Bedeutungsträgerin vorgestellt … Die als dominant und gültig anerkannten Bedeutungen des Internet sind demnach als Ergebnisse kollektiver interpretativer Aushandlungsprozesse und damit als Ausdruck der bestehenden Verteilung von Deutungsmacht zu betrachten …“. Stammen diese schönen Zitate, die das handlungstragende Verb über grammatische Abgründe vom Ausmaß des Grand Canyon spreizen, etwa nicht aus einem Blog?
Vor einiger Zeit las ich in einer Ausführung zur Sprachgeschichte bzw. -entwicklung, dass sich der Mensch vor allem in einem Punkt evolutionär verbessert habe: Während «normale» Säugetiere Schritt und Atem nicht entkoppeln könnten, sei es dem Menschen möglich, mehrere Schritte zu machen, ohne jedes Mal ein- und ausatmen zu müssen. Nun stellt sich mir die Frage, ob die notorischen Verbenwegsteller die Evolution rückgängig machen wollen, oder einfach zu faul sind, um ihre Kingsize-Sätze auf ein erträgliches Mass zu trimmen.
Wenn die Sätze natürlich atmen würden, wäre schon viel erreicht. Diese langen Sätze entstammen einer handwerklichen Tradition: In der Frühzeit des Beamtentums (17. und 18. Jahrhundert) standen die Bürokraten in einem Wettbewerb, besonders lange Sätze flechten zu können, manchmal seitenlange Eheverträge in einem einzigen Satz. Reste dieser Tradition haben bis heute überlebt. Anders ausgedrückt: Das „gespreizte Bürokratische“ ist eine überlebte Kunstform des Barock, aber kein Defizit.
Den Einwurf gelegentlich mal das Präteritum anstatt des Perfekts ist auf jeden Fall mal ein schöner Tipp. Zumal die permanente Benutzung des Perfekts für abgeschlossene Handlungen sowieso absoluter Quatsch, als Beispiel sei eine klassische Fehlkonstruktion genannt: „Im Jahre 1975 habe [verkaufte] ich mein Auto an einen Kollegen verkauft.“Bei solch einer irreführenden Formulierung, würde es ja notwendigerweise bedeuten, dass der Sprechende dieses besagte Auto noch immer verkauft oder noch immer eine gewisse Bindung zu diesem Ereignis verpürt… nach über 30 Jahren klänge das natürlich arg schwachsinnig.Wie auch immer finde ich den Ratschlag zu einer konsequenteren Benutzung des Präteritums zur Vereinfachung und der Logik folgend sinnvoll.Wobei ich denke, dass man auf gar keinen Fall einem Anpassungsprozess an andere Sprachen oder das Unvermögen deutscher oder ausländischer Sprecher diese unsere Sprache richtig zu benutzen, durchführen sollte. (Auch eine Maulsperre 😉 Unsere Sprache hat sich eben historisch in eine Richtung entwickelt, welche doch recht sperrig ist, was meiner Meinung nach irgendwelche Nachbesserungen nicht rechtfertigt. Da stellen sich mir schon allein die Nackenhaare auf wenn ich von einigen Mitmenschen solche misslungenen HS-NS-Konstruktionen wie diese höre:„Ich habe Dich angerufen, weil ich wollte mit Dir sprechen.“ anstatt „…,weil ich mit Dir sprechen wollte.“In diesem Sinne: Lang lebe die deutsche Maulsperre ; )
Die Bemerkung vom Schriftsteller „als raunendem Beschwörer des Imperfekt“ ist von Christa Wolf, wenn ich mich recht entsinne. Ich „griff“ einfach mal hinter mir ins Regal und „hielt“ Heinrich Manns „Professor Unrat“ in der Hand: Dort „stand“ der gesamte Text – bis auf die wörtliche Rede – konsequent im Imperfekt. Mit anderen Worten: Wer etwas Vergangenes erzählen will, soll diese Form verwenden. Nebenbei: Der deutsche Satzbau kennt auch viele „Schönheiten“, bspw. diese fast unbegrenzte Beweglichkeit. Dazu ein andermal mehr …
Vergangenes konsequent im Präteritum zu erzählen, hat ja auch stilistische Auswirkungen. Wenn man sich bei Erzählen dem Mündlichen annähern will, ist Perfekt einfach besser. Man muss eben besser formulieren, damit das Perfekt nicht den fälschlichen Eindruck erweckt, das Ereignis reiche noch in die Gegenwart.
An anderer Stelle in diesem Blog habe ich einen eigenständigen Beitrag zum Imperfekt verfasst. Die Sache mit der „abgeschlossenen“ und „unabgeschlossenen Vergangenheitsform“ – das ist „Feinsinn für Deutschlehrer“. Nach der Schulzeit interessiert sich kein Mensch mehr dafür. Dann macht der Ton die Musik: Das Praeteritum ist nun mal klangvoller als das dahinklöternde Perfekt.
Im Deutschen haben wir das Präteritum wissenderweise vom Imperfekt der romanischen Sprachen abgekoppelt. Warum aber nennen wir die zusammengesetzte Vergangenheit immer noch „Perfekt“, obwohl wir mit ihr, entgegen aller lateinisch-romanischen Traditionen, gerade die nicht vollendete Vergangenheit bezeichnen?Die romanischen Sprachen und auch das Englische kennen den Unterschied genau zwischen „ich holte den Wagen“ und „ich habe den Wagen geholt“. Das Verb am Satzende allerdings, das ist eigentlich typisch lateinisch. In Westeuropa ist es der germanische Einfluß, der das Verb nach vorn rutschen ließ. Nun haben die Schüler (sprich die nachlateinischen Sprachen) den Lehrer überholt und halten es ihm vor? Als polyglotter Paneuropäer verweigere ich mich bewußt der Aufforderung des Artikelautors: jede Sprache trägt in sich auch ein System des Denkens, und wer die Sprache mutwillig assimiliert, gibt mutwillig auch eine ganze Gedankenwelt auf. Nein, der Deutsche spricht nicht falsch. Er verstößt auch nicht gegen „international übliche Regeln“. Der Ausländer, der „ich habe geholt das Geld aus Automat“ sagt, spricht eben nicht Deutsch. Er denkt in seiner Sprache und spricht seine SPrache mit deutschen Wörtern. Deutsch zu sprechen ist nun mal mehr, als englisches Denken in deutsche Wörter zu verpacken, und Englisch zu sprechen ist mehr, als deutsches Denken in englische Wörter zu verpacken. (Ich spreche von Sprachen, nicht von Nationen, nur der Klarheit halber sei es gesagt!)Wer eine Sprache sprechen will, muß in ihr denken. Er muß sich auf ihre Eigenheiten einlassen, wozu eben auch besondere Satzstellungen und Figuren gehören. Wer keinen Ablativus Absolutus kennen will, kann eben kein Latein verstehen, und wer den Optativ verweigert, wird nie die Sprache Sokrates‘ beherrschen. Das bedeutet allerdings auch, er wird die Feinheiten sokratisch-platonischen Denkens letztlich nicht erfassen können, denn die hängen nun einmal an der Sprache. Ich will keinesfalls so weit gehen wie islamische Geistliche, die jede Übersetzung des Korans als Lästerung – weil Verfälschung – der heiligen Texte betrachten, aber wir sollten darüber nachdenken, was dahintersteht: eine andere Sprache bedeutet auch eine andere Denk- und Verstehensweise. Die vom Artikelautor behaupteten „international üblichen Regeln“ gibt es nicht. Jede Sprache hat ihr eigenes Sprachsystem, ihre eigene Semantik, und sie ist darin den ihr verwandten Sprachen meist nah, aber auch nicht immer; den weniger oder nicht verwandten Sprachen steht sie fern. Es wird beispielsweise „international üblich“, sich mit Vornamen anzureden und oft auch zu duzen – das ist eine Eigenheit des modernen Englisch, das die Unterscheidung zwischen Thou und You irgendwann verloren hat. Wie halten es Japaner und Chinesen damit, wie die afrikanischen Sprachen? Nein, die deutsche Sprache ist deutsche Sprache, und es gibt keinerlei Grund, sie nach den Satzbauregeln andrer Sprachen zu vergewaltigen.
Ich zeige ja nicht auf ein «Ausländerdeutsch» als Alternative, wo Hilfsverb und Verb unmittelbare Nachbarn werden sollten, sondern auf die Elite deutscher Schriftsteller, die allesamt das Praeteritum statt des Perfekt pflegten und pflegen. Keine schlechten Vorbilder, wie ich finde – auch entstehen so die klangvolleren und verständlicheren Texte. Hier im Blog existiert übrigens einen weiterer Eintrag mit dem Titel „Lob des Imperfekt“, der diese Position, die sich auf literarische Vorbilder stützt, noch deutlicher macht. Der lateinische Satz verschluckte übrigens das Hilfsverb im Perfekt oft gleich ganz – vermutlich um den Ratespaß für den Leser zu erhöhen. Der letzte Halbsatz war wiederum Ironie, bevor ich mich hier erneut Missverständnissen aussetze …