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Manchmal allerdings hatte ich das Gefühl, ich fürchte mich mehr als sie. Dabei sollte ich doch weiß Gott routiniert sein, denn schließlich habe ich ja gerade erst vor zwölf Monaten meine Große auf diesem Weg begleitet und da ging ja auch alles einfacher als erwartet. Und doch, allen mütterlichen Rufen zum Trotz, ich war diesmal mindestens genauso aufgeregt wie beim letzten Mal. Und hätte ich noch fünf Kinder, wäre ich noch fünfmal aufgeregt, da bin ich mir ganz sicher. Denn jedes Kind ist schließlich anders. Und jedesmal hofft man wieder, dass alles gut gehen möge.

Und es ging alles gut: tolle Lehrerin, prima Klasse, schönes Klassenzimmer, gutgekleidetes Kind, das es sogar trotz Schokotorte zum Frühstück ohne Flecken auf dem neuen Kleid in die Schule schafft, zufriedene Schwester mit eigener kleiner Schultüte, nette Feier, niedliche Fotos und nette Gesten von Verwandten und Bekannten. Dass ausgerechnet an diesem Tag mein Kinn ein überdimensionaler Pickel krönte, war unter diesen Umständen durchaus zu verschmerzen.

Selbst die ersten Hausaufgaben wurden vom frisch gebackenen Schulkind mit Begeisterung angenommen: der Inhalt der Schultüte sollte gemalt werden. Dass ich mir darüber im Vorfeld so viel Gedanken gemacht hatte, war übrigens völlig überflüssig. Meine ganzen wohlüberlegten kleinen Geschenkchen waren sofort vergessen, gemalt wurden nur die Süßigkeiten. Das jedenfalls würde ich mir für die nächsten fünf Kinder merken. Aber immerhin war ich schon ein Stück besser als im vergangenen Jahr. Denn da hatte ich Wochen damit verbracht, das richtige Outfit für die Abc-Schützin zusammenzustellen, bin wetterbedingt am Tag vorher noch auf der Suche nach den passenden Stiefeln durch die Stadt gehetzt, um dann am nächsten Tag mit Schrecken festzustellen, dass das Kind die ganze Zeit die betagte, etwas ausgefranste Jacke nicht auszog.

Ist der erste Schultag erst einmal glücklich hinter sich gebracht, naht aber etwas, das fast noch nervenaufreibender ist. Der zweite Schultag und damit der erste „richtige". Klar, man begleitet das Kind in seine Klasse, hilft noch ein bisschen hier und ein bisschen da, aber dann muss es selbst klarkommen mit der Situation. Da sitzt es dann, etwas verloren, schaut unsicher und man möchte es am liebsten wieder mitheimnehmen und beglucken. Da ist jetzt niemand mehr, der beim Toilettengang hilft und im Fall des Falles mit bunten Pflastern um sich wirft, da gibt es kein Schlummereck zum Ausruhen und der viel zitierte Ernst des Lebens beginnt, wenn auch schleichend. Und morgens vor dem Schultor werde ich das ungute Gefühl nicht los, das Gebäude verschlucke mein Kind. Ein komisches Gefühl. Und doch eines, das ich gerade mit etwa 99 anderen Müttern des Stadtteils teile.

Und dann plauscht man auf dem Nachhauseweg gemütlich, liest nach sechs langen Wochen Sommerferien  zum ersten Mal wieder in Ruhe Zeitung, telefoniert ohne die typischen „Jetzt-sei-doch-bitte-mal-zwei-Minuten-ruhig-Verrenkungen" und schafft es, in wenigen Stunden den Schreibtisch freizuarbeiten. Und zwar genau in den wenigen Stunden, in denen die Kinder in der Schule sind. Es lebe die Bildung!

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