Probanden einer israelischen Studie testen zurzeit den SSD-Prototyp „EyeMusic“: Die Sonnenbrille mit integrierter Kamera und Kopfhörern soll es Blinden ermöglichen, verschiedene Gegenstände und Menschen im Raum mit den Ohren zu „sehen“.
Gesichtserkennung für Blinde: Zwei Klickgeräusche sind eine Nase
Über ein einfaches Notebook spielt der israelische Wissenschaftler Prof. Amir Amedi dem blinden Probanden eine Reihe von merkwürdig fiependen Tönen vor: Zuerst ist da ein sehr tiefer Ton, gefolgt vom prompten Ansteigen in fast schrille Höhen, dann wieder fällt der Ton deutlich ab. Für untrainierte Ohren mag die seltsame Melodie wie das elektronische Maunzen eines niedlichen Roboterkätzchens klingen. Der Proband aber lauscht der chiffrierten Tonfolge konzentriert über Kopfhörer und sieht nachdenklich aus: „Noch einmal, bitte!“ – Sekunden später gibt es keinen Zweifel mehr: Das ist eine Nase. (Funfact: Denn immerhin sind da, die zwei Klick-Geräusche verraten das ganz deutlich, zwei Nasenlöcher erklingbar.)
SSD-Technologie bietet Blinden neue Perspektiven
Die oben geschilderte Laborszene, bei der eine Software zur Gesichtserkennung für Blinde getestet wird, veranschaulicht, wie vielversprechend – und: ja! aufregend! – die bisherigen Forschungserfolge der israelischen Studie im Bereich Neurofeedback bereits jetzt aussehen.
Ausgangspunkt für die Entwicklung von Sinnesersatzgeräten (Sensory Substitution Devices, kurz SSD) ist die phänomenale Wandlungsfähigkeit des menschlichen Gehirns. Ein oft zitiertes Beispiel wäre etwa die Sensibilisierung des Tast- und Gehörsinn bei erblindeten Menschen. Doch das Gehirn kann nach dem Verlust eines Sinnes nicht nur lernen, die anderen Sinne zu schärfen. Es ist darüber hinaus grundsätzlich in der Lage, altbekannte Reize auf völlig neue Weise zu interpretieren. An eben diese Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns knüpft auch die aktuelle Studie in Jerusalem an. Das beeindruckende Potential des Wissenschaftszweigs Neurofeedback indes liegt bereits klar auf der Hand: So könnten die neuesten Prototypen demnächst nicht nur blinden Menschen den Alltag erleichtern, sondern auch anderen, etwa Schlaganfall-Patienten oder Patienten mit schweren Gehirnverletzungen, wieder zu mehr Lebensqualität und Sinn (sic!) zu verhelfen.
Blinde Probanden üben das Hören von Formen
Momentan üben die blinden Teilnehmer der israelischen Studie, verschiedene Töne und Geräusche treffsicher einer genauen Position im Raum zuzuordnen. Außerdem soll trainiert werden, anhand von kodierten Klangfolgen konkrete Gegenstände zu erkennen. Dafür wird über eine Software das Bild eines Gegenstands eingescannt und parallel zur Scanbewegung in Töne kodiert. Der Beginn des Scan wird über einen bestimmten Ton signalisiert. Im Anschluss übersetzt das Programm die Y-Position der jeweiligen Bildpunkte mit korrespondierenden Tonhöhen: Je höher sich ein Punkt innerhalb des Bildes befindet, umso höher erklingt der entsprechende Ton. Schwarze Bereiche im Bild äußern sich demzufolge als Pausen zwischen den Tönen, und Konturen werden zu zusammenhängenden Tonfolgen. Der Erfolg der Übungssituation ist überwältigend: Bereits noch wenigen Stunden Training ist es den blinden Probanden möglich, eine einfache „Melodien“ als visuelle Skizze vor dem inneren Auge zu entwickeln und sie in der Folge exakt nachzuzeichnen.
Prototyp EyeMusic soll auch das Hören von Farben ermöglichen
Die faszinierende Weiterentwicklung ist der jüngste SSD-Prototyp „EyeMusic“. Über die Sonnenbrille mit integrierter Kamera können Probanden nicht nur zweidimensionale Abbildungen auf dem Notebook, sondern sogar reale Gegenstände und Personen erkennen. Der Wissenschaftler Amir Amedi hat dafür einen Algorithmus entwickelt, der die von der Kamera gefilmete Szene zuerst in ein stark vereinfachtes Schwarz-Weiß-Bild und dann in Töne übersetzt. Es sei den blinden Probanden dadurch sogar möglich, explizite Gesichtsausdrücke wie z. B. den universellen Ausdruck von Erstaunen oder Ärger wahrzunehmen. Mit dem Prototyp EyeMusic ist darüber hinaus sogar das Erhöhren von fünf verschiedenen Farben möglich. Die Farben werden durch Instrumente dargestellt: So erklingt die Farbe Gelb als Geigenton, Blau als Trompete, Rot als Reggae-Orgal und Grün als Synthesizer-Bläser. Bildinformationen über die Helligkeit bzw. Dunkelheit eines Objekts werden durch Variationen bei der Lautstärke vermittelt: Je heller ein Objekt, umso lauter der entsprechende Ton.
Wem dieses Multiinstrumentalisten-Spektakel für den Anfang zu viel des Guten ist, der kann sich die Tonfolgen auch erstmal nur unisono als Chormelodie vorspielen lassen und sich so zunächst auf die bloße Form der Objekte fokussieren. Doch keine Bange: Die Übung ist für die Ohren nur halb so anstrengend und reizüberflutend, wie die Beschreibung vermuten lässt. So haben die Entwickler mit Profimusikern kooperiert, damit die neuen Sinnesersatzgeräte sogar ein synästhetisch ansprechendes Hörerlebnis bieten.