Wie wir bereits in einem früheren blog erfahren haben, stellt die von Nikolaus von Kues formulierte Koinzidenz des Kleinsten und des Größten in metaphysischer Hinsicht eine Schlüsselbeziehung dar: Sie beschreibt, wie das Transzendente der letzte und eigentliche Grund der Welt sein kann und dabei von einem innerhalb der Welt gelegenen Standpunkt aus für jedermann unsichtbar bleibt. Eben dieses war eines der zentralen ungelösten Probleme der Metaphysik.
Dass Nikolaus ein Konstrukt aufzuspüren vermochte, dass genau dieses Problem löste, kommt nicht von ungefähr: Er ist bei seiner Gottessuche auf eine ungewöhnlich moderne und systematische Weise vorgegangen.
Ausgehend von der für die sichtbare Welt charakteristischen Beziehung von Kleiner und Größer, ist er Frage nachgegangen, wie die Grenzen der sichtbaren Welt beschaffen sind, wenn man diese Beziehung begrifflich bis zum Äußersten ausreizte. Auf diese Weise entdeckte er, dass mit den Begriffen des Kleinsten und des Größten die äußerste Grenze der sichtbaren Welt bezeichnet war. Und da diese beiden Begriffe, wie er sich ausdrückte, von derselben Art waren, schlussfolgerte er, dass sie auch koinzidieren mussten.
Dass es ihm gerade um dieses Gebiet ging, ist verständlich, denn genau dort begann das, was er zu verstehen trachtete: Das Reich Gottes oder in modernerer Wendung – das Gebiet des Transzendenten. Von diesem innerweltlichen Grenzgebiet aus hatte er naturgemäß die besten Chancen, einen Blick auf das Transzendente zu erhaschen.
Gestützt auf seine Koinzidenz des Kleinsten und des Größten, die er gleichsam als in der sichtbaren Welt verankerte Aussichtsplattform verstand, hoffte er in immer neuen Anläufen, von hier aus zu philosophisch und/oder theologisch verwertbaren Erkenntnissen zu gelangen. Er war von der unerschütterlichen Überzeugung getragen, dass man umso wissender wurde, je tiefer man in dieses Gebiet einzudringen vermochte. Am Ende seines Lebens musste er sich jedoch eingestehen, dass dieser Bereich im wesentlichen geheimnisumwittert geblieben ist.
Dieser Ausgang seiner Erkenntnisbemühungen hat, wie ich behaupten möchte, nicht deswegen einen tragischen Zug, weil Nikolaus von Kues sein Ziel nicht erreicht hat, sondern deswegen, weil er es erreicht hat, ohne dies jedoch auch nur im entferntesten realisiert zu haben. Er ist, was seine ureigensten Erkenntnisse anbelangt, sehend blind gewesen. Worin bestand seine Blindheit?
Sie bestand darin, dass seine Koinzidenz des Kleinsten und des Größten den entscheidenden Schlüssel zu einem modernen Gottesbeweis enthielt. Obwohl er wie kein anderer Denker jener Zeit bereits der heraufziehenden Moderne verpflichtet war und schon von einer exakten Wissenschaft träumte, blieb er auf eine seltsame Weise seinen eigenen Erkenntnissen gegenüber befangen.
Dass die von ihm formulierte Koinzidenz wirklich ein solcher Schlüssel ist, ergibt sich aus ihrem besonderen erkenntnistheoretischen Profil: Tatsächlich bewegt sie sich noch diesseits der Grenze zum Transzendenten hin. Sie repräsentiert als solches eine innerweltliche Beziehung. Aufgrund eben dieses innerweltlichen Charakters ist sie prinzipiell empirischer Überprüfung zugänglich. Sie beinhaltet die Vorhersage, dass unser physikalisches Universum an seinen äußersten Grenzen – im Kleinsten wie im Größten – eine Koinzidenz resp. eine Übereinstimmung zu erkennen gegeben haben muss, wenn das Transzendente real existiert. Oder bündiger formuliert: Wenn das Transzendente real existiert, dann muss es für die Koinzidenz des Kleinsten und des Größten notwendigerweise eine analoge empirische Koinzidenz geben.
Eben dieser Möglichkeit war sich Nikolaus von Kues nicht im geringsten bewusst, und das, obwohl er diese Koinzidenz, wie sein Werk – die De Docta Ignorantia – zeigt, bereits ausdrücklich als etwas Meßbares erkannt hatte. Am Ende war ebenso sehr ein Opfer seiner Sehnsucht nach Transzendenz wie alle modernen Interpreten, die sich seither mit ihm beschäftigt haben.
Weder Nikolaus von Kues noch einer der ihm nachfolgenden Denker haben in der Klarheit und in der Deutlichkeit wahrgenommen, dass die Koinzidenz des Kleinsten und des Größten der wissenschaftliche Schlüssel zum Beweis des letzten und eigentlichen Grundes der Welt ist – und dies obwohl diese Option eigentlich offensichtlich ist.
Aufgrund dieses Unvermögens ist auch kein Theoretiker jemals systematisch der Frage nachgegangen, ob die von Nikolaus formulierte Koinzidenz innerhalb des von uns beobachteten physikalischen Universums faktisch realisiert ist oder nicht.
Doch es war nicht nur die fatale Sehnsucht nach Transzendenz, auch die Einfachheit dieses Konstruktes hat wesentlich dazu beigetragen, dass Generationen von Theoretikern – seien sie Physiker, Philosophen oder Theologen gewesen – an diesem so scheinbar primitiven Konstrukt achtlos vorübergegangen sind. Doch in Wahrheit ist es vielleicht eines der bedeutendsten Konstrukte der menschlichen Philosophie überhaupt: Es zeigt, wie die Signatur Gottes aussieht. Wir müssen nur noch nachschauen und überprüfen, ob unser Universum eine solche Signatur aufweist oder nicht.