Die Recherche sei ein journalistisches Verfahren zur Abbildung sinnlich wahrgenommener Wirklichkeit mit den Mitteln der Sprache, schreibt Wikipedia. Um dann in diesem bemerkenswert dürftigen Wiki-Artikel vor allem auf die Internet-Recherche und auf die Probleme der Informationsbeschaffung im virtuellen Raum einzugehen.
Andererseits soll es aber auch noch Journalisten geben, die vor Ort recherchieren, die Dinge «in Augenschein» nehmen. Generell zählt die Recherche zu den am schwierigsten zu vermittelnden Techniken, manche Journalisten sagen sogar, Recherche ließe sich gar nicht lehren: Man hat's – oder man hat's nicht, heißt es dann.
Stünde ich in einem Seminar vor dem Problem, das Verfahren der Stoff- und Beweissammlung, der Glaubwürdigkeitsabschätzung und die Rolle eigener vorgefasster Meinungen zu erläutern, dann würde ich Literatur zur Illustration heranziehen. Denn der Graben zwischen der Literatur und dem Journalismus ist nicht tief: Viele Schriftsteller arbeiteten jahrelang als Journalisten, nicht nur ein Tucholsky oder ein Heine. Da wäre bspw. Hans Fallada, dessen Schlüsselroman «Bauern, Bonzen und Bomben» über weite Strecken aus der Perspektive des Rechercheurs geschrieben ist – oder auch Feuchtwangers «Erfolg».
Ein weiteres meisterhaftes Beispiel ist Robert Penn Warrens „All the King's Men" (dt. „Der Gouverneur") aus dem Jahr 1946. In ihm beschreibt Warren den Aufstieg des Populisten Huey Long zum Gouverneur von Louisiana aus der Perspektive seines späteren Pressesprechers, der zunächst als Journalist dem Phänomen „Willie Stark" – dies der Name von Long's fiktivem Alter Ego – auf die Spur kommt. In den typisch «konzentrischen Ringen» der Recherche geht Jack Burden vor, strikt von außen nach innen, ganz wie im Lehrbuch des Journalismus.
Zunächst einmal lernen wir das «Setting» der Geschichte kennen, eine von der Holzindustrie kahl gefressene Landschaft, in der das menschliche Strandgut, der «white trash», zurückgeblieben ist: «Die Sägen sangen in den höchsten Tönen, und der Angestellte der Gesellschaft verteilte dunklen Sirup und Schweinebauch und schrieb in sein dickes Buch, und der Yankeedollar und die vereinigte Dummheit arbeiteten zusammen … und alles war vergnügt wie auf einer Hochzeit. Bis plötzlich keine Föhren mehr da waren. Man transportierte die Sägewerke wieder ab. Über die Schmalspurgleise wuchs Gras. Die Leute rissen die Kantinen ein zu Brennholz. Von einem Dollar am Tag war keine Rede mehr».
In dieser ökologischen Katastrophenregion, die den «sozioökonomischen Hintergrund» bildet, kommt es zu einem Fall kommunaler Korruption beim Bau eines Schulgebäudes. Der Journalist marschiert keineswegs direkt auf den Kreis der Mitwisser und Verantwortlichen zu, sondern hört sich zunächst bei der Bevölkerung um, unter anderem bei den weißen «Has-Beens», die sich vor dem Friseurladen den Hintern platt sitzen:
«… Und Nummer Eins: „Stark. Dieser Stark."
Und Nummer Zwei: „Ja, dieser Willie Stark."
Und Nummer Drei: „Platzt aus den eigenen Hosen. Sitzt im Rathaus und mit den Vorderfüßen im Trog und platzt aus den eigenen Hosen."
Und Nummer Vier: „Tja."
Ich wartete, dann sagte ich: „Er will, dass sie den niedrigeren Voranschlag annehmen, hat man mir erzählt."
Und Nummer Eins: „Ja, will, dass sie den niedrigsten Voranschlag annehmen und einen Haufen Nigger herholen."
Und Nummer Zwei: Und Weiße arbeitslos machen, beim Bauen."
Und Nummer Drei: „Wer will neben einem Nigger arbeiten? Und noch dazu neben einem fremden Nigger? Ob es nun ein Schulhaus ist oder ein Scheißhaus."
… Tja, sagte ich zu mir selbst, das ist also die Sache. Bezirk Mason ist eine Arbeitergegend und man mag dort die Neger nicht, geschweige denn fremde, und eigene haben sie nicht. …»
Erst nachdem Burden sich auf diese Art das «Bühnenbild» erschlossen hat, nachdem er weiß, an welchen rassistischen Strippen der korrupte Sheriff und seine Helfershelfer ziehen, um den Widerstand gegen ihr überteures Angebot zu brechen, begibt er sich ins Zentrum: «"Sie kommen von weit her", meinte der Sheriff, „um Ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken …». Und erst danach, nachdem alle Mitspieler geortet und befragt sind, kommt der Besuch beim «Aufklärer» Willie Stark.
Den Rest mag sich jeder selbst durchlesen, das Buch ist antiquarisch preiswert erhältlich und jeden Cent des Kaufpreises wert. Zu beweisen war hier, dass sich mit dem Mittel der Literatur oft über Recherche mehr lernen lässt, als durch ein Semester Theorie-Seminar im Studiengang Kommunikationswissenschaft. Dass auch in der Blogosphäre Google und Wikipedia nicht den Besuch bei den Menschen ersetzen werden – und sei es nur, um direkt am Schauplatz ein wenig Atmosphäre zu schnuppern.
Werbung