Dass unsere Sprache sich bewegt, dass sie atmet, das ist den wenigsten Menschen klar. Ein zusammenhängender Text ist kein gleichförmiges Asphaltband sinntragender Vokabeln, das unserem Mund entströmt oder auf dem Bildschirm erscheint, jede Sprache muss immer gesprochen werden, ob laut vor einem Publikum oder still in unserem Hinterkopf beim Lesen. Immer sagen wir uns einen Text selbst vor. Damit wir ihm gern folgen, muss er «alternieren», er soll sich also in den Hebungen und Senkungen des Tonfalls wiegen, er darf niemals den Leser mit Pastoraltönen einschläfern, niemals ins Stocken geraten, sonst fallen wir aus dem Text heraus. Das ist im Grunde das, was sich hinter dem Wort «Duktus» verbirgt. Viele Schriftsteller «skandieren» übrigens ihre Texte, entweder laut – oder sie trommeln sie beim Lesen leise mit.
Vor einigen Tagen kabbelte ich mich mit meiner Frau. Es ging um Urlaubsziele, auch um gebirgige. „Wenn du glaubst, dass ich wie eine Gemse von Fels zu Felsen springe …“, sagte meine marschgeborene Margret. Ich fragte noch einmal zurück, weil ich ein wenig abgelenkt gewesen war: „Ich habe nicht die Absicht,“ antwortete sie, „wie eine Gemse von Fels zu Fels zu springen“.
Seltsam, zwei fast identische Äußerungen – aber im ersten Fall tritt der eingesprungene Dativ zweisilbig als «Felsen» auf, das zweite Mal nur einsilbig als «Fels». Hierfür existieren keinerlei grammatische Gründe. Hier handelt es sich um schlicht Vorgänge, die wir sprachökonomisch automatisiert haben, um uns «Zungenbrecher» zu ersparen: Im ersten Fall wären nämlich zwei ebenso betonte wie sinntragende Silben aufeinander geprallt: «Fels» und «sprin-», weshalb wir unwillkürlich ein unbetontes «-en» an den Fels angehängt haben. Im zweiten Fall dann existiert durch eine leicht veränderte Satzkonstruktion schon ein infinitives «zu» als Platzhalter der Stimmsenkung, so dass die Endung «-en» entbehrlich war. Offensichtlich sprechen wir unwillkürlich so, dass möglichst selten zwei betonte Silben aufeinander treffen, wobei betonte Silben oft zugleich die sinntragenden Silben sind.
Wir sollten dies nicht als große Entdeckung feiern, auch wenn so etwas so etwas nur noch selten gelehrt wird; viele Autoren und Texter setzen das Phänomen bewusst ein: „Kat-zen wür-den Whis-kas kau-fen“. Schlicht ein vierhebiger Trochäus: Dammda-Dammda-Dammda-Dammda – zugleich eins der ältesten Rhythmus-Patterns aller Popmusik. Die Umkehrform – Dadamm-Dadamm-Dadamm-Dadamm – gibt es natürlich auch, das wäre dann ein vierhebiger Jambus: „Der Duft der Frau-en pro-vo-ziert„.
Weshalb das so ist? Nun – streng rhythmisierte Sätze lassen sich besonders gut memorieren. Deswegen fassen Werbetexter Slogans in Verse, ebenso wie Journalisten ihre Headlines, was viele Menschen noch nicht einmal merken, weil sie dem populären Irrtum aufsitzen, dass man Verse und Gedichte am Reim erkenne. Auch viele der Lebensregeln, die wir alltagssprachlich auf Anhieb kennen, gehorchen dem Gesetz des vierhebig organisierten menschlichen Speichervermögens: «Wér nicht hóe-ren kánn, muss fuéh-len.» Oder im Dreischritt (Daktylus): «Es íst noch kein Méi-ster vom Hím-mel ge-fál-len». Die gesamte Volksweisheit beruht im Grunde ja nicht auf «Wahrheit» (denn von Mozart bis Chopin sind natürlich schon jede Menge Meister von Himmel gefallen), diese Weisheit beruht auf einer rhythmischen Eingängigkeit, die der Vers erzeugt, der wiederum die erwünschten Vorurteile beinhart zementiert. Ich könnte auch spotten und sagen: Besonders wahr erscheint uns das, was der Verslehre gehorcht.
(und beim nächsten Mal geht’s hier um Sprachrhythmus in der Prosa – um die Basis also für einen „straffen und lebendigen Stil“)